Kindermörder Jürgen BartschGefesselt, gefoltert, missbraucht und zerstückelt

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BartschJürgen

Der Stollen, in dem die Kinderleichen gefunden wurden, wurde später versiegelt.

  • Am 21. Juni 1966 fasst die Polizei Jürgen Bartsch. Vier Jungen hat er schon auf grausame Weise umgebracht.
  • Ein fünftes Entführungsopfer, das sich befreien kann, führt die Mordkommission auf seine Spur.
  • Die Rekonstruktion einer der schaurigsten Mordserien in der deutschen Geschichte.

Bushaltestelle Heeger Brücke, Velbert-Langenberg. Regentropfen springen wie aufgeplatztes Popcorn auf dem Asphalt. Einmal in der Stunde kommt hier ein Bus. Die Luft hängt nass und schwer wie ein vollgesogener Putzlappen über dem Tal. Nebenan überwuchert Brombeergestrüpp eine meterhohe Felswand. In einem Stollen dahinter fand die Polizei vor 50 Jahren die Leichenteile von vier Kindern. Zur Erinnerung hat jemand einen Zettel an die Leitplanke geklebt: „Es tut auch nach so langer Zeit immer noch weh. Klaus Jung, Peter Fuchs, Ulrich Kahlweiß, Manfred Graßmann.“

Es war der 21. Juni 1966, als die Polizei den Kindermörder Jürgen Bartsch fasste. Er hatte seine Opfer in das Verließ gelockt, gefesselt, gefoltert, sexuell missbraucht, getötet und zerstückelt. 19 Jahre war er damals, Metzgergeselle, Hobby-Zauberer, gut gekleidet, ein hübscher Junge.

Sein fünftes Opfer konnte sich befreien. Jürgen Bartsch hat alle Taten gestanden.

Bartsch ist ein Jahrhunderttäter. „Er war ein psychopathischer Sadist, pädophil und homosexuell, tolldreist, überaus intelligent und, was sehr selten ist, bei seinen Morden erstaunlich jung“, sagt der Kölner Forensiker Mark Benecke, der sich lange mit dem „Kirmesmörder“ beschäftigt hat: „Zu seiner Auffälligkeit gehörte, dass er seine Opfer auf grausame Weise quälen musste.“ Der Fall Bartsch ist auch heute noch „ein psychiatrisches und kriminalistisches Lehrstück“.

Autoscooter, Geisterbahn, Rosen schießen, Zuckerwatte – die Kirmes ist Bartschs Jagdrevier. Hier trifft er Klaus, hier wird er alle seine Opfer einfangen. Er lädt den Achtjährigen ein, lockt ihn in den Stollen, verspricht „altes Kriegswerk und einen Schatz“. In der Höhle muss Klaus sich ausziehen, Jürgen, der 15-Jährige, schlägt ihn bewusstlos, tötet und zerstückelt ihn, onaniert. „Ich hatte das Gefühl, du musst es tun.“

Danach sitzt der Halbwüchsige nachts auf dem Bett in seinem Zimmer unter der Wendeltreppe, immer und immer wieder hört er die Westernmelodie „Apache“ oder Freddy Quinns „Heimweh“. Im Arm hält er ein Kissen, wiegt es wie ein Baby. Er betet: „Lieber Gott, ich baue ganz viele Kapellen, wenn du mich ein für alle Mal von dieser Scheiße befreist“, wie er in einer von zahlreichen Ton-Dokumenten zu Protokoll gibt.

„Der Jürgen war immer pikobello“

Ein steiler Fußweg windet sich vom Stollen den Berg hinauf zur Finkenstraße. Der Name der Siedlung: Glaube und Tat. Heute stehen vor dem Haus, in dem sich Bartsch damals in den Schlaf betete, Igel aus Ton. Vom Balkon flattert eine Deutschlandfahne, die vormals weißen Verschalplatten hat die Witterung schwarz und grau gefärbt. Werner Mahlke (Name geändert), 67, steht in der Tür, Brille, Schirmmütze mit der Aufschrift „Party 2001“ und sagt: „Der Jürgen war immer pikobello, er hat uns oft auf ein Bier eingeladen. Spendabel war der.“

Das Haus hat Mahlke vor 23 Jahren von Bartschs Adoptivvater gekauft. „Warum auch nicht? Ich bin ja hier aufgewachsen.“ Dennoch: Es ist das Haus eines Mörders, der zwischen 1962 und 1966 vier Kinder tötete. „Das war damals, als es rauskam, eine Katastrophe. Jahrelang war das das einzige Gesprächsthema: Der Jürgen. Warum?“ Seine Kindheit war eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände.

Dabei war Bartsch ein freundliches Kind. Schon die Krankenschwestern auf der Geburtsstation in Essen schwärmten, als der Junge am 6. November 1946 unter dem Namen Karl-Heinz Sadrozinski zur Welt kam: „Der strahlte immer, wenn jemand kam. Der streckte immer die Ärmchen hoch.“

Seine Mutter ekelte sich vor ihm

Seine psychisch kranke Mutter war da schon abgehauen. Fast ein Jahr blieb der Junge auf der Geburtsstation. Bis das ungewollt kinderlose Ehepaar Bartsch sich in sein niedliches Gesicht verguckte, ihn frisch gewaschen einpacken ließ und mit nach Hause nahm. Was als Adoption gedacht war, ist eher der Kauf eines Luxusguts, eines Kindes, das eben dazugehört zur Kleinfamilienidylle der 1950er Jahre. „Seine Adoptivmutter war kalt. Sie hat ihn behandelt wie eine Puppe. Sie konnte keine Bindung zu ihm aufbauen, von anderen Kindern hat sie ihn isoliert. Damit er nachts nicht ausbüxen konnte, nahm sie ihm die Klamotten weg“, sagt Benecke.

Weil der Einjährige, dem in der Klinik schon die Windeln abtrainiert wurden, zu Hause wieder einnässt, ekelt sich die Mutter vor ihm. Bis zu seiner Festnahme hat sie den Sohn gebadet, „eine grenzverletzende Handlung“, sagt Benecke. Als Bartsch einmal den Spiegel in der Metzgerei nicht sauber genug putzt, wirft sie ein Fleischermesser nach ihm, bespuckt und beschimpft ihn: „Du bist ein Stück Scheiße.“

„Er hätte Hilfe gebraucht!“ Helga Schneider (Name geändert), 75, wohnt nur wenige Meter von Jürgen Bartschs Elternhaus entfernt. Sie kämpft noch heute mit der Frage: Kann man Mitleid haben mit einem Jungen, der vier Kinder umgebracht hat? Kann man über einen Mörder sagen: Es hat in seiner Kindheit an Liebe gefehlt? „Wenn man seine Geschichte kennt, kann man schon Mitgefühl entwickeln.“

Vor Gericht sagt Bartsch über seine Zufallsopfer: „Was diese Kinder für ein Scheißpech gehabt haben.“ Reue auf der einen, der Trieb zu töten auf der anderen Seite. „Hinterher hat mir das immer leidgetan. Vor allem, weil ich dachte: Die mussten mich ja leiden können, sonst wären die gar nicht mitgekommen.“ Seine fehlgeleitete Sehnsucht nach Nähe wird Bartsch und seinen Opfern zum Verhängnis. „Im Totfoltern lag seine Erfüllung. Nur so konnte er menschliche Bindungen aufbauen“, sagt Benecke.

Als Jürgen seine Sexualität entdeckte, schoben ihn die Eltern ins Heim ab. Später Drill und Frömmigkeit in einem katholischen Internat. Wenn Jürgen in Marienhausen bei den Salesianern das Schweigegebot verletzte, haben die Priester ihm „in die Fresse gehauen, dass ich unter den Betten hindurchgesegelt bin“. Der Versuch, Freundschaften aufzubauen scheitert. An der katholischen Doppelmoral, die aus Angst vor homosexuellen Handlungen jede Bindung der Jungen verbietet, aber auch an Bartschs extremer Anhänglichkeit. Über einen Kameraden sagt er: „Ich hing wie eine Klette an dem. Das war für den Jungen natürlich nicht auszuhalten.“ Ein Außenseiter, immer. „Ich habe mich schlagen lassen in der Schule und mir dann ausgemalt, wie ich alle in den Bauch trete, wenn ich groß bin.“

Eines Tages schreibt er in großen Buchstaben an den Kühlschrank: „Der Rächer“.

Vor 50 Jahren fand die Polizei am Ort der Rache die Leichenteile der Kinder, dazu Messer, Drahtschlingen, Kerzen, Streichhölzer. Die anschließenden Prozesse haben „die Strafjustiz maßgeblich verändert“, sagt Benecke. Der Fall hat dafür gesorgt, dass in ähnlichen Fällen nicht mehr nach dem Henker, sondern nach dem Arzt gerufen wird. Nachdem Bartsch in erster Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, gestand man ihm in der Revision verminderte Schuldfähigkeit zu. Der Richter schickte ihn in die psychiatrische Klinik Eickelborn.

„Ein ganz besonders lieber Junge“

Bartsch starb mit 29 Jahren bei der Operation zu seiner Kastration, auf die er lange gedrängt hatte. „Er wollte unbedingt ein normales Leben führen“, sagt Benecke. „Er dachte, die Entmannung sei seine Chance.“ Auch mit seinen Eltern hatte er sich zum Schluss versöhnt: „Ich verstehe mich mit ihnen so gut wie nie. Weil ich heute ein ganz besonders lieber Junge bin.“

Der Stollen ist längst zugemauert. Nur der Ortskundige kann das Weiß der Backsteinmauer durch das Gestrüpp schimmern sehen. Lediglich ein kleines Loch führt noch in die finstere Höhle. Für die Fledermäuse.

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