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Kommentar zum 70. GeburtstagNRW hat Besseres verdient

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nrw landesflagge

Die Landesflagge von NRW

Köln – Es ist ein verzagter Riese, der heute 70 Jahre alt wird. So jedenfalls muss einem Nordrhein-Westfalen vorkommen, wenn man Statistiken liest. Mit seiner Wirtschaftsleistung, bei den Beschäftigungsquoten oder den Bildungserfolgen etwa nimmt NRW hintere bis letzte Plätze unter den westdeutschen Flächenstaaten ein. Punkten kann es hingegen allein mit schierer Größe: der Einwohnerzahl, der Fläche oder der Konzentration an städtischem Raum. NRW ist durch Größe bedeutsam und dennoch in der Lage, jede nationale Bilanz herunter zu ziehen.

So ist die Feierlaune gleichsam melancholisch verschattet. Und auch wenn der britische Thronfolger, Prinz William, dem offiziellen Festakt in Düsseldorf royalen Glanz verleiht, geht einem die Opfer-Rhetorik der hiesigen Regierungschefin nicht aus dem Sinn. Gerne bemüht Hannelore Kraft die Bundesregierung, die Energiewende und den industriellen Wandel als Erklärungen für das bestenfalls durchschnittliche Abschneiden ihres – unseres – Landes.

Ist man erst einmal auf dieser Fährte von Ausflüchten und Selbstzweifeln, werden sogar objektiv vorhandene Vorzüge zur Last. Sicher, diesem Land fehlt eine Identität. Kölnern etwa ist Holland allemal näher als Ost-Westfalen. Aber ist das nicht eigentlich von jeher eine Stärke Nordrhein-Westfalens – dass es als multiples Gebilde mit einer Vieldeutigkeit an Orientierungen so etwas wie eine „Nation im Kleinen“ ist, die sich stets neu (er-)finden muss. Es gilt diese Stärken zu bündeln.

Auch als Wirtschaftsstandort ist NRW erfreulich diversifiziert: Maschinenbau im Sauerland oder im Bergischen, High-Tech und Möbelindustrie in Ost-Westfalen, Verwaltung in Düsseldorf und Münster, Versicherungen und Autokonzerne in Köln – und alles durchzogen von Landwirtschaft. Nicht zu vergessen die Schwer- und Kohleindustrie des Ruhrgebiets, die über Jahrzehnte alles andere in den Schatten stellte. Im guten wie im prekären Sinne: Die Region mit ihrer gewerkschaftlich gebundenen SPD-Dominanz und einer Fixierung aufs Vergangene stand dem notwendigen Wandel und damit sich selbst allzu lange im Weg.

Während in Westfalen die Textilbranche sang- und klanglos verschwand und Platz für die Ansiedlung moderner Unternehmen machte, verteidigte die Kohlelobby erbittert jeden Zentimeter angestammten Terrains. Obwohl der Bergbau bereits 1956 seine erste Krise erlebt hatte, kam auch danach kein Politiker daran vorbei, unter Tage zu gehen und von Ruß geschwärzt wieder aufzufahren. Die Bilder von Johannes Rau mit diversen Bergmannschören sind Teil dieser Ikonographie wie auch der Bewusstseinsbildung einer ganzen Region. Scharfzüngig und präzise hat der Kabarettist Jürgen Becker diese Mentalität als das bezeichnet, was sie ist: Rückwärtsgewandt. Mag sein, dass der Gründungsmythos des Landes und seine Funktion als Motor des Wiederaufbaus trügerisch war. Jedenfalls haben Stolz und Identität, die sich hieraus speisten, den Wandel auf Dauer eher gelähmt als befördert.

Es waren Globalisierung und Digitalisierung, die den Riesen NRW aus dem Tritt brachten. Wolfgang Clement (damals SPD) und Jürgen Rüttgers (CDU) hatten ungeachtet aller operativen Schwächen zumindest einen Modernisierungsanspruch. Hannelore Kraft ist eine rechtschaffene Politikerin, die in guten Stunden vermittelnd und integrierend zu wirken weiß. Aber ihre Partei würde einen großen Fehler machen, wenn sie nostalgisch auf die allgemeine Suche nach Heimat und Identität, die auch die mediale Wirkung des NRW-Geburtstages erklärt, setzte.

Baden-Württemberger sagen ironisch-selbstbewusst, sie könnten alles außer Hochdeutsch. Was sagt NRW? Dass hier der Durchschnitt zu Hause ist? Am 70. Geburtstag haben „wir in Nordrhein-Westfalen“ Besseres verdient.

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