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Nach Sturm ElaSpontanaktion in Essen entwickelt sich zu Freiwilligen-Netzwerk

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Aufräumarbeiten nach dem Sturm: Frank Haase, hinten, packt mit an.

Aufräumarbeiten nach dem Sturm: Frank Haase, hinten, packt mit an.

Essen – „Ganz wichtig ist, keine Angst zu haben“, sagt Markus Pajonk. „Nicht vor den Behörden. Nicht vor der eigenen Courage. Und vor allem nicht vor dem Scheitern. Einfach loslegen und beweisen, dass es funktioniert. Später kann man immer noch darüber nachdenken, was schiefgelaufen ist.“ Vor dem 45-Jährigen dampft eine Tasse Milchkaffee; er trägt ein giftgrünes T-Shirt mit der Aufschrift „Essen packt an“ und einem Logo, das erst auf den zweiten Blick als Kombination aus einer zupackenden Hand und einem stilisierten Herz zu erkennen ist.

Spontanaktion wurde zu Freiwilligen-Netzwerk

Frank Haase neben ihm nickt bedächtig. Er trägt das gleiche T-Shirt wie Pajonk. „Wichtig ist, aufmerksam zu sein. Anzupacken, ohne groß zu fragen.“ So jedenfalls hält es der Ein-Euro-Jobber, seit am 9. Juni 2014 Sturmtief „Ela“ über das Ruhrgebiet hinwegfegte und Essen in eine Wüstenei aus Trümmern und umgestürzten Bäumen verwandelte. Rund 700 Menschen sprangen den Profis von Feuerwehr, Polizei und Technischem Hilfswerk damals nach einem privaten Facebook-Aufruf zur Seite und unterstützten sie über Wochen bei der Beseitigung der Sturmschäden. Inzwischen ist aus der spontanen Aktion „Essen packt an“ ein viel gelobtes und mehrfach ausgezeichnetes Freiwilligen-Netzwerk mit zahlreichen sehr unterschiedlichen Hilfsprojekten geworden.

Projekt-Mitglieder hoffen auf Sponsoren

„Geht doch!“ – so heißt die Serie, in der wir Projekte, Ideen und Initiativen in NRW vorstellen, die zeigen, wie viel Spaß es machen kann, selber zu handeln statt bloß zu hadern. Haben Sie Beispiele aus Ihrem Umfeld, bei denen Sie sagen „Geht doch“? Schreiben Sie uns!

ksta-region@mds.de

Heute: das Freiwilligennetzwerk „Essen packt an“.

Ausgangssituation: Essen wird durch den Pfingststurm „Ela“ im Juni 2014 verwüstet.

Die Idee: Wir räumen auf und stoßen weitere Projekte zum Wohl der Stadt Essen an.

Das Team: ein harter Kern von 70-80, ein erweiterter Kreis von 200 freiwilligen Helfern.

Die Finanzierung: Spenden.

Das Wichtigste: einfach loslegen.

https://www.facebook.com/Essenpacktan

Die Mitglieder der Initiative betreuen als „Spielplatzhelden“ Kinderspielplätze oder fahren nachts mit einem Bollerwagen durch die Stadt und verteilen Suppe an Obdachlose. „Warm durch die Nacht“ heißt das Projekt. Andere begleiten Wohnungslose zu Ämtern und Behörden, ermöglichen ihnen die kostenlose Teilnahme an kulturellen Ereignissen oder engagieren sich, wie Haase, in der Gruppe „Natur und Umwelt“. Der 41-Jährige setzt sich für die Beseitigung des hochgefährlichen Riesenbärenklaus ein. Bislang ist das Projekt an fehlenden Schutzanzügen für die Helfer gescheitert. Jetzt hofft das Netzwerk auf einen Sponsor, der ihm im nächsten Jahr die Schutzkleidung finanziert.

„Wir sind Spontanhelfer und wollen mit »Essen packt an« ein niedrigschwelliges Ehrenamt etablieren“, sagt Markus Pajonk, der in seinem zweiten Leben als kaufmännischer Leiter in einem Hi-Fi-Betrieb arbeitet. „Viele Menschen wollen zwar helfen, aber nicht Mitglied in einem Verein werden. Bei uns können sie sich ohne große Verpflichtung engagieren, wenn sie Zeit und Lust haben. Wir organisieren unsere Projekte über Facebook. Manchmal kommen zehn Leute und wollen mitmachen. Manchmal 40. Und manchmal kommt gar keiner.“ Einzige Bedingung für alle potenziellen Spontanhelfer: „Wer eine Idee für ein neues Projekt hat, muss sich selber einbringen und in den ersten drei, vier Monaten am Ball bleiben. Nur eine Idee zu haben reicht nicht. Man muss auch mitmachen.“

Über Lokalfunk und Facebook zum Team gestoßen

Der harte Kern der „Stand-by-Ehrenamtler“ besteht aus 70 bis 80 Menschen, der „erweiterte Kreis“ aus etwa 200. Zum Herzen der Initiative gehören Frauen wie Melanie Kroeger – Kellnerin, Tortenbäckerin und Mutter von vier Kindern. Vor einem Monat ist ein erstes Enkelkind dazugekommen. Sie hörte nach dem Sturm über Essen im Lokalfunk von dem Facebook-Aufruf eines gewissen Tobias Becker und beschloss spontan, bei den Aufräumarbeiten zu helfen. „Ich habe ja gesehen, wie katastrophal es in der Stadt aussah und wollte mich einbringen“, sagt sie. Heute arbeitet die 43-Jährige mit im „Orga-Team“ der Gruppe und betreut deren Facebookseite.

Viola Köhnen – auch sie ist von Anfang an dabei – hat kürzlich eine Spielplatzpatenschaft übernommen. Spielplatzpaten sehen auf dem Platz nach dem Rechten und organisieren schon mal ein Fest zwischen Schaukeln und Kletterstangen. „Es ist eine Win-win-Situation für alle, sagt die 45-Jährige, die derzeit arbeitslos ist. „Man lernt neue Leute kennen, kann für »Essen packt an« werben und tut gleichzeitig etwas Gutes.“

Im Oktober wird „Essen packt an“ den mit 2500 Euro dotierten Essener Solidaritätspreis bekommen. Es ist nicht die erste Auszeichnung für das Netzwerk. Pajonk und seine Mitstreiter freuen sich. Sie haben noch viele Pläne. „Doch viel wichtiger als Geld sind Menschen, die mitmachen“, sagt Pajonk. Die bereit sind, anderen das Wichtigste zu geben, was sie haben: ihre Zeit.“

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