ReportageEin Blick in die Zukunft: Der Besuch bei einer Hellseherin

Lesezeit 10 Minuten

Für den Kosmos bin ich Luft. Oder wie ist es zu erklären, dass Karin dauernd „nichts reinbekommt“ in ihre Kristallkugel? Die befragt sie in meinem Auftrag nach den Aussichten 2016; wer möchte nicht gerne wissen, was das neue Jahr so bringt?

Ich wende mich an Karin (alle Wahrsagerinnennamen geändert), weil mir ihr Profil auf einem riesigen Esoterik-Portal ganz gut gefällt und weil ich als Einsteiger nach einer zeitraubenden Suche und Selbstbefragung – will ich Erzengelenergie nutzen, Fern-Reiki oder irgendwas mit Dualseelen (das müsste ich aber erstmal googeln) anstellen? – etwas Handfesteres anstrebe. So eine Kristallkugel ist mir fast vertraut, die erfreut mich bei Frau Schlotterbeck immer wieder, auch noch beim vierten Mal „Hotzenplotz“.

Ich wähle also den Klassiker, zudem fasse ich zum freundlich-pfundigen Bild von Karin spontan Zutrauen: offenes Gesicht, freundliches Lächeln, braunes langes Haar, so um die vierzig. Fast alle hellsichtigen Ladys auf dem Portal (Männer sind da offenkundig nicht so begabt und in krasser Unterzahl) bezeichnen sich als „feinfühlig, einfühlsam, liebevoll, absolut ehrlich“ und haben „eine hohe Trefferquote“, viele beerben ihre Großmütter in der Kunst der Hellsicht. Karin ist da etwas sachlicher, was ihre Vielseitigkeit nicht in Abrede stellt. Runen, Hermesenergie oder Wasserlesen hat sie auch drauf.

„Ich glaube/ich denke/ich habe das Gefühl"

Ich strebe via Online-Anmeldung mit umfassender Datenabfrage (wahrscheinlich ist für meine Zukunft vor allem das Spam-Aufkommen gesichert) unser Telefongespräch an. Schade, dass ich die Kristallkugel nicht sehen kann, aber scheinbar ist darin eh nicht viel los. Der überwiegende Teil von Karins Antworten beginnt mit ich glaube/ich denke/ich habe das Gefühl, so dass ich schnell den Eindruck habe, mit dem Universum läuft’s gerade nicht rund und eine durch und durch durchschnittliche Frau quatscht mit mir semischlaues Zeug.

Die drei Hauptaussagen am Ende des Gesprächs: Zu Veränderungsüberlegungen: „Nur du selbst stehst dir im Weg und nur du kannst die Situation ändern.“ Aha. Zur Partnerschaft: „Sagt euch doch mal: Wir sind ein Paar, lass’ uns am selben Strang ziehen.“ Mhm. Zur allgemeinen Aussicht auf 2016: „Man muss den Energiefluss nutzen, die Chance, die das Schicksal auftut.“ Welche jetzt genau? Und kommt das aus der Kugel oder aus Karin?

Bei 1,99 Euro pro Minute will man dann aber auch gar nicht tiefer dringen. Wir wünschen uns was, nett war sie ja, und mit einem herzlichen „es wird definitiv gut werden für dich“ und Aussichten auf „stabiles Geld“ schließt sich die Orakel-Tür vor meinem inneren Auge und herausgekommen ist ein dumpfes Nichts.

Esoterische Dienstleistung als Lebenshilfe

Jedenfalls kein Kosmos-Glamour, kein Geister-Geheimnis, nicht mal das kleinste Bisschen Witz oder Wahnsinn, das diese Session wiederholenswert machen würde. Aber während ich noch in meinem Hokuspokus-Klischee des Außenseiters festhänge und über fehlende Perspektiven für 2016 grüble, erklärt mir Sarah Pohl bereits die neue Welt der Wahrsagerei: „Diese Art der esoterischen Dienstleistung hat längst den Anspruch, eine direkte Lebenshilfe zu sein“, sagt Pohl, die als promovierte Pädagogin bei der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg wirkt.

Die Beratungsstelle kümmert sich um Menschen, „die ungewöhnliche, paranormale, okkulte oder unerklärliche Erfahrungen gemacht haben“, also beide Seiten des Marktes – Anbieter und Kunde. Gegründet wurde sie von der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie (WGFP), einer in Deutschland einmaligen, etablierten Einrichtung auf diesem Gebiet. Hier betrachtet man die mögliche Substanz der Esoterik, aber auch deren Marktmacht. „Die Angebote schießen wie Pilze aus dem Boden, in immer kürzeren Zeitabständen gibt es Hypes, vor einiger Zeit waren das Engel und die sogenannten Indigokinder; momentan ist beispielsweise Quantenheilung ein großer Trend“, sagt Pohl.

Auf der nächsten Seite geht es weiter...

Umsätze von 18 bis 20 Milliarden Euro im Jahr

Das Interesse läuft quer durch die Gesellschaft, quer durch die Generationen und ist ein Riesengeschäft, in dem sich, so die Expertin, die Anbieter immer besser vernetzen und eine Lobby erstarkt. Zahlen gibt es wenige, immer wieder genannt werden die des Zukunftsinstituts Kelkheim, das die Umsätze in Sachen Spirituelles/Esoterik 2010 bereits auf 18 bis 20 Milliarden Euro schätzte, bis 2020 ist dort von 35 Milliarden die Rede, zudem geht ungezähltes schwarz über den Tisch. Was Pohl kritisch sieht, ist die wachsende Kommerzialisierung und damit auch die wachsenden Möglichkeiten für Scharlatane. Die Mitarbeiter und Wissenschaftler der Parapsychologischen Beratungsstelle stufen esoterische Angebote nicht grundsätzlich als Humbug ein.

Auch Menschen, die an sich eine besondere Fähigkeit, etwa Hellsicht, bemerkt haben wollen, können sich beraten lassen, etwa, ob sie die Gabe als etwas Nützliches für andere einsetzen können oder was sich im Umgang mit Ratsuchenden verbietet. Menschen, die von einem Medium eine beängstigende Prognose erhalten haben, bekommen Hilfe, um einen Orakelspruch zu interpretieren und sich von Ängste wieder zu befreien.

Allerdings geht die parapsychologische Forschung – sehr vereinfacht ausgedrückt – im „Modell der pragmatischen Information“ davon aus, dass sich dieses „Sehen“ nicht wie ein Signal benutzen lässt. „Es folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten, passiert in der intuitiven Veranlagung von Menschen“, sagt Pohl. Die Vorstellung, das lasse sich erlernen und jederzeit abrufen, sei jedoch falsch. Für die Pädagogin ist klar, dass die gesellschaftliche Aufgeschlossenheit für Übersinnliches auch schlechten Absichten und Manipulationen Tür und Tor öffnet.

Nicht zufällig kommen auch bei der Beratungsstelle Sekten-Info NRW in Essen, die sich um Menschen kümmert, die mit Esoterik-Angeboten schlechte Erfahrungen gemacht haben, immer mehr Anfragen zu diesem Thema. Eine belegbare Qualifizierung für Hellseherei sei – naturgemäß – nicht möglich, sagt Pohl. Im Gegenteil, „bei einer Scheinqualifizierung sollte man eher hellhörig werden.“

Eine belegbare Qualifizierung für Hellseher? Naturgemäß nicht möglich

Die Geschäfte mit Hellsehen, Aura und Pendel bleiben auf dem Markt eine leicht zugängliche Konstante, bei der sich zwei Dinge treffen: ein bestimmter Service und ein bestimmtes Bedürfnis. Komplexitätsreduktion fassen es Fachleute zusammen, also einerseits „bietet ein esoterisches Weltbild Sicherheit und klare Handlungsanweisungen in einer scheinbar immer verzwickter werdenden Welt, in der man Zusammenhänge nicht mehr versteht“, sagt Sarah Pohl.

Zudem fehlen mit dem schwindenden Einfluss der großen Kirchen Sinnstiftung und Rituale. Können sich Menschen in einer rational dominierten Welt mit gewissen Lebensfragen nicht mehr einordnen, „finden sich auf dem Esoterik-Markt massenweise Möglichkeiten, Spiritualität zu erleben“.

Die Spiritualität geht bei mir im Kabel verloren. Ich probiere jetzt mal einen Chat aus, der ist für Neukunden in einem anderen großen Online-Bauchladen mit Auslage von Kartenlegen bis Channeling beim ersten Mal gratis. Schnupperhellsehen sozusagen. „Meine Karten sind sehr genaue Karten, die auch Zeitangaben geben können“, schreibt Susanne in ihrem Profil, sie guckt da angeblich seit fast 40 Jahren drauf und hat (wie allerdings alle Hellseher im Portal) annähernd die volle Kundenbewertungszahl von fünf Sternen. Wir schreiben uns also ein Viertelstündchen hin und her und es zeigt sich, dass Susannes Karten von der ganz praktischen Ratgebersorte sind.

Lesen Sie weiter: Warum Estoterik so gut bei den Menschen ankommt

Entspannung und mehr Zeit prophezeien sie mir, wenn ich mein „kleines Koordinationsproblem umstrukturiere“, weisen mich darauf hin, dass man aber auch Zeit füreinander „wollen muss“ und „gemeinsam bekommen Sie es beide hin, mehr Zeit für sich zu haben“. Das hilft doch sofort, oder? Da muss man auch nicht um den heißen Brei herumchatten. Und gibt es was zur Gesundheit zu sagen, oder kommt da für 2016 mal wieder nix rein?

Doch, die Karten sprechen und zwar Folgendes: „Sie müssen sich keine Sorgen machen, wenn Sie das Gleichgewicht einhalten und weiterhin auf gesunde Ernährung achten, und zum Stressabbau sind Sport oder Spaziergänge gut.“ Huldvoll sprechen die Karten kurz vor Ablauf der Freiminuten dann noch zu mir: „Ihre Ängste sind zurzeit ein wenig zu stark, finden Sie mehr zu Ihrem inneren Gleichgewicht."

Wo sich Lebensfragen nicht mehr einordnen lassen, findet die Esoterik Möglichkeiten

Ich habe nicht die richtigen Fragen. Ich habe nicht die richtigen Probleme. Ich suche das Falsche. Aber irgendwas muss doch in den nächsten zwölf Monaten auch auf mich warten außer einem wohlkoordinierten Spaziergang, oder? „Ein Wahrsager wird Ihre Welt nie schwieriger machen, da kommt nie: Ja, es geht dir schlecht, weil du ’ne blöde Tröte bist“, sagt Sebastian Bartoschek. Bartoschek ist Psychologe in Herne, Esoterik-Experte und Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), die beharrlich versucht, die so populäre Geister-Welt zu entzaubern. „Ein wichtiges Versprechen der Esoterik ist das der angeblichen Kontrollierbarkeit des Alltagslebens und das Versprechen von Ganzheitlichkeit: Ich nehme dich so, wie du bist. Das scheint zwar ganz banal, fehlt aber vielen Menschen: positiver Zuspruch und Anerkennung.“

Harmlos kann Bartoschek das nicht finden, auch nicht, wenn es jemandem ein gutes Gefühl verschafft. „Dass an Hellseherei nichts dran ist, ist das eine; aber psychisch angeschlagene Menschen kann eine Hotline in die Abhängigkeit und in ein finanzielles Desaster bringen.“ Und selbst wenn die Kontakte nicht gleich in der großen Katastrophe enden – „mit einem Auto-Defekt würde doch auch keiner zum KFZ-Pendeln fahren, um es energetisieren zu lassen. Aber am Kostbarsten, was wir haben, an der Psyche, lässt man dann Amateure rumdrücken?“

Die Wissenschaft war nicht emotional genug

Was Bartoschek und die GWUP besonders umtreibt, ist, dass Esoterik in ihrer immer weiter reichenden Verzweigung vor allem auch in den pseudoheilenden Bereich „mehrheitsfähig geworden ist“. „Wir hingegen setzen auf den Sieg der Vernunft“, sagt Bartoschek, „das kann zugegebenermaßen etwas dauern.“ Aber ist nicht gerade diese rein rationale Weltsicht ein Grund dafür, dass sich viele Menschen mit Sorgen und Ängsten an Orakel wenden?

Bartoschek seufzt: „Ein Problem ist sicher, dass die Wissenschaft lange Zeit nicht emotional genug war. Wir haben es nicht verstanden, Menschen da abzuholen, wo sie stehen, und dann sind andere gekommen. Wenn Menschen emotional suchen oder handeln, muss ich Menschen auch emotional ansprechen.“ Das sehe er auch für die skeptische Bewegung, als die sich die GWUP begreift, als notwendige Anleitung bei ihrer aufklärenden Öffentlichkeitsarbeit. Und auf Hilfsangebote der weltlichen Sphäre bezogen, resümiert der Psychologe: „Wir versehen viele Lebensberatungsangebote und Alltagshilfen mit schwierigem Zugang, langen Wartezeiten, wenig Flexibilität; gerade Psychotherapie wird als besonders hochschwellig wahrgenommen.“

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Ein Besuch bei der Wahrsagerin zu Hause

Auf der Tasse steht Ikea, drinnen bleibt der Kaffeesatz

Tatsächlich klappt’s beim Wahrsager unter Umständen nicht nur per Telefon zeitnah; mein dritter Versuch, dem Zauber der Hellsichtigkeit per persönlichem Gespräch nahezukommen, fällt auf einen Montag, die Mail zur Terminanfrage ging Sonntag raus. Im Nieselregen führt eine lange triste Landstraße in die Peripherie, ein normales Wohnhaus, an der Tür Videokameras und das Schild „Lebensberatung“ mit Brimborium. Elena öffnet, eine kleine ältliche Frau, dunkel und unauffällig gekleidet, lange rötliche Haare, Freisprechknopf in einem Ohr (telefonisch macht sie nämlich auch), Kaugummi im Mund, sie spricht in einem komplett gefliesten Raum hinter einem großen schwarzen Tisch leise und freundlich mit starkem Akzent.

Bevor sie spricht, schüttet sie eine Tasse Kaffee in die Untertasse, auf der Tasse steht Ikea, drinnen bleibt der Kaffeesatz. Jetzt muss aber auch die Krise her, sonst nutzt der ganze Kaffeesatz nichts. Aber bevor ich noch dramatisieren kann, höre ich schon von meinen eigenen Problemen, besser gesagt, von meiner maroden Partnerschaft, die im Arbeitsalltag zerrieben wird.

Ich widerspreche nicht, sondern lerne einen ganz neuen Menschen an meiner Seite kennen, gut im Herzen, fähig im Beruf, pflichtbewusst, aber eben „wie eine Soldat“ und zu Hause ausgebrannt. Er spricht nicht, also bin ich frustriert. An dieser Stelle will ich einhaken, einiges erstmal klarstellen. Aber warum eigentlich? That’s Kaffeesatz, denke ich mir. War es nicht diese äußere Einsicht, die ich haben wollte?

Aber jetzt bitte mal was Positives, oder bin ich etwa die blöde Tröte? Nein, ein Blick in die schwarzen Krümel verrät: Vor allem die Kohle stimmt nächstes Jahr, die Familie ist stabil, die Kinder sind „sehr, sehr gut“, ich nehme an, sie meint höchstbegabt, ihre Großeltern werden hundert (ist das eine gute Nachricht?), „das Universum will, dass du dich bis Mai zusammen sammelst“. Da bleibt’s erstmal heikel, dann aber alles oberprimasupergut. Wie das? „Universum“, sagt Elena und streckt beide Arme nach oben, macht große Augen, wendet den Kaugummi – „Universum!“ Ich lege 60 Euro auf den Tisch und fahre über eine lange triste Landstraße nach Hause. Universum, du kannst mich mal.

KStA abonnieren