Mode für Menschen mit BehinderungAbendkleid im Rollstuhl

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Manchmal bedeuten ein paar Plastikperlen ein Stück Freiheit. Zumindest, wenn sie auf ein Kleid der Designerin Christine Wolf genäht sind. Die Perlen sind in dezenten Mustern am Saum oder den Ärmeln angebracht, manche auch am Etikett. Für Sehende sind sie nur hübsche Verzierungen. Für Blinde bedeuten sie Autonomie. Denn die Perlen ergeben für sie Buchstaben – in Blindenschrift steht da zum Beispiel: „Größe 38, dunkelrot, passt zur Hose X“. Und: „Waschbar bei 30 Grad“.

Willkommen in der Zukunft: Das Netzwerk Smart fit in möchte bald in Zusammenarbeit mit Einzelhändlern in größeren Städten anbieten, sich per 3-D-Scanner vermessen zu lassen. Egal ob behindert oder nicht: Der Körper wird mit all seinen Eigenheiten millimetergenau vermessen. Die Kleidung müsste nicht gleich vor Ort geschneidert werden – die erhobenen Daten könnten in ein Netzwerk gespeist werden, der Kunde sich den passenden Anbieter aussuchen und die Stücke liefern lassen.

Wolf hat Modedesign studiert. Für ihre Kollektion hat sie sich erstmals mit dem Thema Mode für Behinderte auseinandergesetzt. Sie hat mit blinden Frauen gesprochen, über ihr Verhältnis zu Mode und die ganz alltäglichen Herausforderungen, die Sehende sich selten bewusst machen. Da sind die Zweifel: Habe ich bei den Farben danebengegriffen? Sitzt alles? Oder will mein Gegenüber mit seinem Kompliment nur höflich sein? Und die praktischen Probleme: „Eine Frau hat ihre Kleider immer nur kalt gewaschen“, sagt Wolf. „Weil sie Angst hatte, dass sie sonst verfärben würden.“

Die Idee, Perlen in Blindenschrift anzubringen, sei leicht zu realisieren: Mit einem Computerprogramm übersetzte sie die nötigen Angaben – und nähte sie auf eine Kollektion, die bereits fertig war.

Trotz der so simplen wie genialen Idee und Wolfs Bereitschaft, das Konzept auch in Fremdarbeit für andere Unternehmen umzusetzen – Interessierte für einen größeren Auftrag gab es bisher nicht. „Dabei wäre es so einfach“, sagt Wolf verwundert.

Kathleen Wachowski ist angesichts des Desinteresses der Wirtschaft, wenn das Wort „Behinderung“ fällt, nicht mehr verwundert. Sie ist Mitglied beim Verein Reha-Sport-Bildung und beim Netzwerk „Smart fit in“. Das veranstaltet seit Jahren ein internationales Forum zu „Adapted Fashion“, auf dem sich Hersteller, Vertreiber und Nutzer von Mode für Menschen mit Handicap treffen. Namhafte Marken oder Bekleidungshäuser sind dort nicht vertreten. Wachowski hat schon oft versucht, Zusammenarbeiten zu starten. Die Reaktionen aus den oberen Etagen seien immer dieselben gewesen, klar formuliert: „Wir brauchen die Behinderten als Zielgruppe nicht.“ Oder sogar: „Wir und Behinderungen? Das passt nicht zusammen.“

Stattdessen ruht diese Nische der Modewelt ganz auf den Schultern von Einzelkämpferinnen. „80 Prozent sind Mikrounternehmen“, sagt Wachowski. „Oft sind es Frauen, die selbst ein Handicap haben oder einen Familienangehörigen pflegen – und dabei erfinderisch werden müssen.“

Wie Eva Brenner: Die gelernte Schneiderin und Kostümbildnerin hat Multiple Sklerose. Und ist, wie sie selbst sagt, „stockeitel“. Doch die Krankheit setzt ihren Körper langsam außer Gefecht. Vor 14 Jahren versagten ihre Beine, auch ihre Hände wurden starr. Ein Assistent hilft ihr für ein paar Stunden pro Tag – beim Aufstehen, Anziehen, Duschen. Die Betreuungszeit ist knapp bemessen. „Alles muss schnell gehen“, sagt die 51-Jährige. Auf der Strecke blieb zu Anfang: ihre Eitelkeit.

Denn einfach einkaufen, was optisch gefällt, ist für sie kaum noch möglich. Ihr Handicap stellt besondere Anforderungen an ihre Kleidung: Reißverschlüsse und Knöpfe kann sie nicht greifen. Die Taille sollte besonders hoch geschnitten sein, der Stoff weich und fließend. Aber nicht zu weit, sonst gerät er in die Rollstuhl-Speichen. Hosen dürfen keine Knöpfe auf den hinteren Taschen haben, am liebsten sollen sie überhaupt keine aufgesetzten Taschen besitzen, genau so wenig wie starke Nähte. Wer ständig in der selben Position sitzt, bekommt davon Druckstellen und Wundmale, die sehr lange brauchen, bis sie verheilen.

Als Brenner sich auf dem Mode-Markt für Rollstuhlfahrer umsah, entdeckte sie unförmige Unisex-Hosen und riesige Regen-Ponchos in Signalfarben, die den Rollstuhl mitbedecken. Reine Funktionalität, keine Ästhetik – oftmals abgestimmt auf die Bedürfnisse der Pfleger, nicht auf die Menschen, die die Mode tragen.

Kurzerhand entwarf Eva Brenner ihre Kleidung selbst und tat sich mit einer Schneiderin zusammen, die kaum sehen kann. „Wir hatten vor allem einen Anspruch: Schön sollte es sein!“ Der Verein „Einfach leben“ war geboren. Meistens schneidert das kleine Team nach Maß, individuell zugeschnitten auf jede Behinderung. Eine der wenigen Kollektionen, die Brenner entworfen hat, eine Business-Kimono-Kollektion aus glänzenden Stoffen, wurde auf dem Bezgraniz Couture Award in Moskau (siehe Infobox) ausgezeichnet. Die Oberteile werden nur von einem Stoffgürtel zusammengehalten – den kann Brenner selbst umbinden. Leicht sei das nicht, sagt sie. Aber ästhetisch. Und das kleine Stück Selbstbestimmung sei jede Mühe wert.

Von ihren Entwürfen leben kann Brenner nicht. Nur eine Schneiderin wird fest von „Einfach leben“ beschäftigt. Ansonsten arbeiten alle mehr oder weniger ehrenamtlich, weil die arbeitsintensiven Maßanfertigungen erschwinglich bleiben sollen. „Gerade Menschen mit Handicap haben oft wenig Geld“, sagt Brenner.

Ausgerechnet in Moskau, das für seine unbarmherzige Behandlung von Behinderten bekannt ist, gründete der deutsche Unternehmer Tobias Reisner mit Janina Urussowa den Bezgraniz Couture Award. Er stellt alljährlich die neuesten Entwürfe aus der adaptierten Modewelt vor. „Bez graniz“ bedeutet: ohne Grenzen.

Eva Brenners Arbeit ist in zwei Punkten exemplarisch für diesen Mode-Markt. Zum einen vertritt sie eine Unternehmenskultur, die sozial denkt, nicht rein profitorientiert. Eine Wirtschaft mit Gewissen, davon träumt Smart-fit-in-Initiatorin Kathleen Wachowski im großen Stil: „Es gibt ungefähr eine Milliarde Behinderte“, sagt sie. „Und 80 Prozent davon leben außerhalb Europas, außerhalb der privilegierten Welt. Wir wollen hier ein Netzwerk schaffen, das bald auch diese Menschen erreichen kann.“ Deswegen hat Smart-fit-in Fördermittel beim europäischen Parlament beantragt und ein Konzept zur Mikrokredit-Förderung vorgestellt, das in naher Zukunft speziell kreativen Einzelkämpferinnnen wie Eva Brenner weiterhelfen soll.

Zum anderen sind Brenners Entwürfe natürlich nicht exklusiv für Behinderte gedacht. Sie sind bloß adaptierte, also an bestimmte Bedürfnisse angepasste Kleider, die für viele Menschen funktionieren. Deswegen sieht Wachowski auch jeden Menschen als potenziellen Kunden: Rentner, die Probleme mit dem Gehen haben. Lkw-Fahrer, die zwölf Stunden am Tag sitzen, könnten wie Rollstuhlfahrer bequeme und gepolsterte Hosen tragen.

Von einem stützenden, ultra-leichten T-Shirt, wie es der Spastiker mit extremer Rückenkrümmung gebrauchen kann, profitiert auch der Tour-de-France-Fahrer, der sich tagelang über seinen Lenker beugt. „Das sind körperliche Extrembereiche, die sich sehr ähneln“, sagt Wachowski. „Auch wenn die einen extrem mobil und die anderen extrem immobil sind.“ Das verbindende Element ist oft die Technik – gesundheitsfördernd, leistungsstark, sexy. So, hofft Wachowski, werden durch Mode und Wirtschaft auch festgefahrene Klischees abgebaut: „Wir wollen raus aus der Kaste »Behinderung«!“

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