Nach Nizza und WürzburgTouristen und Einheimische in Todesangst

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Bild München Terror Frau Polizei

Polizisten geben verunsicherten Menschen Auskunft.

München – Es ist der Abend, an dem die Furcht brachial in die Gelassenheit bricht, die Nachrichten der Smartphones in diesen Freitag hineinschlagen, wie schon lange nichts mehr in München.

Die Leute sitzen im Hofbräukeller beim Bier unter den alten Kastanien, doch innerhalb von zwei Minuten steht da in den gesenkten Blicken auf die Handys nicht mehr ein neugieriges Interesse. Da ist in Blicken der Leute: nur noch das Entsetzen.

Wilde Schüsse in München - um 17.52 Uhr geht der erste Alarm bei der Polizei ein. Die Nachricht über die Schüsse in einem Münchner Einkaufszentrum macht über Twitter und andere soziale Medien die Runde.

Polizeihubschrauber kreisen

Über der Stadt kreisen Polizeihubschrauber, überall hört man Sirenen von Polizei- und Rettungsfahrzeugen.

Draußen über den Bäumen des Biergartens ist jetzt das Rattern der Hubschrauberrotoren zu hören. Die Münchner Polizei twittert, dass die Leute alle Plätze meiden sollen, dass sie nach Hause gehen oder am besten bleiben sollen.

Aber jetzt sind so viele gehetzt auf den Bürgersteigen unterwegs wie selten an einem Sommerabend in dieser Stadt, in der das Leben nur selten so rast, so schnell rast wie an diesem Terrorabend, an dem schon die nächste Meldung auf die Smartphones knallt.

Alarm am Stachus

Es gibt auch am Stachus mitten in der City Alarm - aber niemand weiß zunächst etwas Genaues. Menschen flüchten aus der Innenstadt, überall marschieren schwerbewaffnete Polizisten auf. Eine Stadt in Todesangst - zu frisch sind noch die Eindrücke von Nizza und der Axt-Attacke in Würzburg.

In der Innenstadt hasten Menschen in Bürohäuser und Restaurants. Eine junge Frau setzt sich völlig erschüttert auf die Steintreppen in einem Bürogebäude und weint. „Ich will nicht sterben“, schluchzt sie mit bebender Stimme. „Hier bist Du in Sicherheit“, versucht eine Frau sie zu beruhigen.

Wo seid ihr?

Wo seid ihr? Geht es euch gut? Die Leute im Biergarten starren auf ihre Displays, sie wollten den Abend genießen, so, wie man das hier macht. Jetzt versuchen sie ihren Freunden und Verwandten zu schreiben: Ja, es ist alles in Ordnung. Die Kellnerinnen stehen an den Schanktheken, wer will jetzt schon noch etwas von ihnen. Die Leute wollen nach Hause, aber ist das gut jetzt? Taxis gibt es nicht. Mit den Kindern auf die Straße? Besser nicht.

In den sozialen Netzwerken bieten Münchner „offene Türen“, sie bieten Schutz für die, die wie gelähmt sind, und dennoch hetzen. Es dauert lange, bis die Polizei, die Meldungen dementiert, dass es am Stachus eine Schießerei gegeben habe. Aber natürlich kommt die Meldung so schnell wie möglich. Und über die Toten am Einkaufszentrum nahe des Olympiastadions  gibt es auch nichts mehr zu dementieren.

Auch in den Keller des Restaurants „Il Sogno“ flüchteten etwa 20 bis 30 Menschen. Bei Twitter bieten unter dem Hashtag #Offenetür Nutzer sichere Zufluchtsorte für Passanten an.

Die Fußgängerzone, auch der Marienplatz in der Innenstadt - sonst Mittelpunkt des städtischen Trubels - sind schnell wie leer gefegt. Angst, Todesangst treibt die Leute weg.

Die Geschäfte in der Innenstadt schließen weit vor Ladenschluss. Eiserne Gitter werden eilends runtergelassen, manchmal bleiben die Auslagen draußen mit Sonderangeboten stehen. Sicherheit geht vor.

U-Bahnen stehen still

U-Bahn, S-Bahn, Straßenbahnen und Busse - alles steht still, der Hauptbahnhof wird geräumt. Menschen flüchten über die Gleise Richtung Heimat. Auf den Straßen unzählige Staus.

Eine Touristin aus Italien fragt in der Innenstadt einen Münchner, wo sie sicher ist. „Am besten gehen Sie in ein Restaurant“, lautet die Antwort. Nur runter von der Straße.

Im Nordosten der Stadt, am Ort der Schüsse rund um das Olympia-Einkaufszentrum herrscht Ausnahmezustand. Schnell wurde es von der Polizei geräumt, alles ist weiträumig abgesperrt, auch die Straßen rund um das Einkaufszentrum sind dicht. Doch wo sich der oder die Täter befinden, darüber herrschte zunächst noch Ungewissheit.

Hochbetrieb in der City

Die Tat hier trifft die Stadt an einem Lebensnerv, hier herrscht Freitagnachmittag in der Regel Hochbetrieb. Alle großen Ketten haben hier Geschäfte. Dann machen Gerüchte die Runde, auch in der Innenstadt seien Schüsse gefallen. Die Polizei ruft die Menschen dazu auf, zu Hause zu bleiben.

Sorge um Geschwister

„Natürlich macht man sich Sorgen, ich habe schon ein komisches Gefühl“, sagt eine Verkäuferin in einem Zoofachhandel, knapp zwei Kilometer von dem Einkaufszentrum entfernt. Auch um ihre Familie macht sie sich Sorgen, „vor allem, weil ich meinen Bruder und meine Schwester nicht erreicht habe. Die waren vielleicht dort einkaufen.“

Ob sie am Abend nach Hause kommt, weiß sie noch nicht: „Ich wohne ganz in der Nähe, nur fünf Minuten mit dem Auto. Ich hoffe, dass die Straßen da frei sind.“

Ungewissheit über das Motiv

Das Schlimmste für viele Menschen ist die Ungewissheit. War es der Amoklauf eines Einzelnen, aus Eifersucht oder Rache? Oder gar ein Terroranschlag, möglicherweise von mehreren Tätern? Die Polizei spricht nach einiger Zeit von drei Tätern, die auch Stunden nach den ersten Schüssen noch auf der Flucht seien.

Die Stadt ist in Angst, und selten war dieser Satz so wenig ein Klischee wie heute Abend.  Der Hauptbahnhof wird geräumt, die Münchner Polizei fordert Unterstützung von der Anti-Terror-Einheit GSG 9 an.

Terror von 1972

Die Älteren erinnern sich noch an den Terror von 1972, an die Toten und die Geiseln im Olympiastadion, an die Attacke auf die israelischen Sportler. Der Terror war schon einmal hier, auch 1980 auf dem Oktoberfest mit so vielen Toten nach der Bombe eines Rechtsextremen.

Und jetzt ist er wieder in München, und nachdem, was in Nizza und Paris geschehen ist, haben die Menschen auf jedem Meter ihres Weges Angst; auch wenn München eine Großstadt ist, und das Olympia-Einkaufszentrum ein paar Kilometer weg liegt von den Biergärten in Haidhausen, wo jetzt nur noch ein paar Menschen unter den Kastanien ausharren, sich dieser Weltlage nicht ergeben, und ihr trotzdem nicht entkommen können.

(mit dpa)

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