Lebensgefährlicher TrendDeutsche Bahn geht gegen Schienen-Selfies vor

Lesezeit 4 Minuten
Tödliches Ende auf Gleisen: Szenen aus dem Video der Bahn

Tödliches Ende auf Gleisen: Szenen aus dem Video der Bahn

Bergisch Gladbach – Jörg Ackmann von der Bundespolizei in St. Augustin ist weit davon entfernt, Dinge zu dramatisieren. Doch seit er im August 2013 in der Nähe des S-Bahn-Haltepunkts Duckterath in Bergisch Gladbach von einer Brücke aus zwei junge Mädchen beobachten musste, die auf den Bahngleisen standen, um mit ihren Smartphones Fotos zu machen, ist für ihn klar: Darüber muss gesprochen werden.

„Ich habe fast fünf Minuten gebraucht, bis ich am Haltepunkt war.“ Ackmann rennt los, weist sich als Polizist aus, spricht die Mädchen an. „Beide waren der Meinung, sie hätten nur kurz im Gleis gestanden. Ich habe mir das Handy zeigen lassen. Da waren 30 bis 40 Bilder drauf. Die beiden waren sich keiner Gefahr bewusst. Sie hätten doch extra die S-Bahn abgewartet.“

Dass auf der eingleisigen Strecke zwischen Köln-Dellbrück und Bergisch Gladbach auch Gegenzüge kommen und Güterzüge fahren, sei ihnen nicht bewusst gewesen. „Sie haben mir erzählt, die Bilder seien für eine Freundin, die an dem Tag nach München zurückfahren wolle. Sie wollten mit den Fotos ihre unendliche lebenslange Freundschaft dokumentieren.“ Ackmann konfrontiert die Teenager noch an Ort und Stelle mit Selfie-Aktionen, die tödlich endeten und bittet sie, die Bilder zu löschen, damit sie nicht weiter verbreitet werden können. „Das haben sie dann auch getan.“

Alles zum Thema Deutsche Bahn

Ein Paar, das sich niemals trennt

Selfies an Gleisen sind ein lebensgefährlicher Trend, der lange unbeachtet blieb. Vor allem Mädchen im Teenager-Alter sind empfänglich für diese Art inszenierter Emotionalität. Die Fotos werden in den sozialen Netzwerken geteilt und mit Sprüchen von ewiger Freundschaft versehen. „Auch wenn jetzt ein Zug kommen würde, ich würde Deine Hand nie loslassen. Und auch wenn er uns erwischen würde.

Ich wäre froh bei Dir zu sein“ ist in dem Youtube-Video „Für mein Engel LiSi“ neben einem Gleisbett-Foto zu lesen. Die Faszination von Gleisen, die immer parallel und an einem Fluchtpunkt zusammenlaufen, ist nicht neu. Musiker haben das Thema immer schon aufgegriffen. Doch beste Freundinnen nutzen sie mit Selfies auf ihre Weise. Als Symbol für ein Paar, das sich niemals trennt.

Allein bei Instagram gibt es rund 13.000 Fotos, die mit den Schlagworten „gleise“ oder „gleisen“ markiert sind. „Ich habe den Mädchen erklärt, dass sie wohl nur durch Zufall die längere Pause zwischen zwei Zügen erwischt hätten“, sagt Ackmann. „Wir haben über Bremswege von Zügen, Spannungen in der Oberleitung gesprochen. Eine der beiden hat während des Gesprächs vor Aufregung gezittert und betont, dass sie das nie wieder machen wird. Ihre Freundin wirkte relativ ruhig.“

Jörg Ackmann arbeitet als Präventionsbeauftragter der Bundespolizei in Nordrhein-Westfalen an Schulen. Genaue Zahlen über Selfies im Gleis gebe es nicht. „Wenn man die sozialen Netzwerke durchforstet, dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Die meisten Fälle gehen zum Glück gut aus.“

Leider nicht immer. Das Phänomen wurde im Juni 2011 erstmals öffentlich, als zwei junge Mädchen in Memmingen auf der Bahnstrecke nach Lindau ums Leben kamen. Sie befanden sich zu dicht an den Gleisen und wurden von einem Zug erfasst. Damals war die Polizei zunächst von einem Doppelselbstmord oder einem Unglück ausgegangen, bis Jugendforscher Martin Voigt, der sich seit 2007 damit befasst, sie auf die richtige Spur brachte. Im Juni 2013 bezahlten in Lünen zwei junge Mädchen (14, 15) eine Selfie-Aktion mit dem Leben. Auch sie hatten Freundschaftsbilder schießen wollen.

84 Todesfälle durch unerlaubtes Betreten der Gleise

Die Bahn ist in dieser Woche in die Offensive gegangen, spricht davon, „dass sich derzeit in den sozialen Netzwerken ein sehr gefährlicher Trend entwickelt“. In einem emotionalen Video weist sie auf die dramatischen Folgen dieser Gleis-Selfies hin. Der Spot ist Teil der Kampagne „Wir wollen, dass Du sicher ankommst“, die sich an Jugendliche und junge Eltern richtet.

Themen der Videos sind Risiken durch falsches Verhalten am Bahnsteig, unerlaubtes Betreten von Gleisen, Klettern auf abgestellte Güterzüge und leichtsinniges Verhalten am Bahnübergang. „Wir verzeichnen bis Oktober 2015 schon 84 Todesfälle durch unerlaubtes Betreten der Gleise“, sagt eine Bahnsprecherin. „Dazu gehören neben Selfies das Klettern auf Güterwagen oder das Abkürzen über die Gleise.“

Ein Zug, der mit Tempo 100 unterwegs ist, kommt bei der Notbremsung erst nach 1000 Metern zum Stehen. „Man hört ihn zu spät, um das Gleis noch verlassen zu können.Das unerlaubte Betreten von Bahnanlagen kann eine Geldbuße bis zu von 5000 Euro nach sich ziehen, bei einer Gefährdung des Betriebs sogar als Straftat gewertet und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren geahndet werden. Das ist ein hoher Preis für die Inszenierung einer dramatisch-schönen Mädchenfreundschaft. Von der tödlichen Gefahr mal abgesehen.

KStA abonnieren