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Vermisstenfall Tanja GräffEin Knochenfund - und viele Fragen

Lesezeit 7 Minuten
Mit diesem Bild suchten Stadt, Freunde und Polizei nach Tanja Gräff.

Mit diesem Bild suchten Stadt, Freunde und Polizei nach Tanja Gräff.

Trier – Das Haus mit der Nummer 74 an der Bonner Straße in Trier ist ein schmuckloser Betonbau aus den 80er Jahren. Wie Schuhschachteln kleben die kleinen, fahlgelben Balkone an der Fassade. Vor dem Haus tobt der Verkehr der E 53 Richtung Zentrum. Direkt dahinter ragt eine Wand aus Stein in den Himmel. Den „roten Felsen“ nennt man in Trier an der Mosel den rund 50 Meter hohen Steilhang aus Buntsandstein, der so nackt und glatt ist, dass nur ein paar Büsche mühsam Halt an ihm finden.

Hier, im dichten Unterholz am Fuße der Felswand, direkt neben Haus 74, entdeckte vor wenigen Tagen ein Trupp geschockter Arbeiter durch Zufall das, was – acht Jahre nach ihrem spurlosen Verschwinden im Sommer 2007 – von der Lehramtsstudentin Tanja Gräff übrig geblieben ist: Knochen. Zähne. Ein Paar altersfleckige Turnschuhe. Ohrringe. Ein altmodisches Handy. Die zerschlissenen Reste einer Tasche mit Hawaiimuster. Und einen Studentenausweis der Hochschule Trier, der auch die letzten Zweifel beseitigte: Tanja Gräff aus Korlingen war endlich gefunden – und Deutschlands wohl bekanntester Vermisstenfall um einige Fragen reicher.

Trotz 3000 Hinweisen acht Jahre keine Spur

Warum wurden die sterblichen Überreste der junge Frau erst jetzt entdeckt? Obwohl die vermutliche Absturzstelle, der Kamm des roten Felsens, nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt liegt, an dem sie zum letzten Mal gesehen wurde. Obwohl die Trierer Polizei mehr als 3000 Hinweisen nachging und die Ermittlungsakten „EK FH KD Trier Tanja Gräff“ 200 umfangreiche Aktenordner füllen.

Eine Woche nach dem schrecklichen Fund in Triers Stadtteil Pallien sind die Rodungsarbeiten neben Haus 74 beendet, die Absperrbänder der Polizei wieder zusammengerollt. Baumstümpfe und bloßgelegtes Wurzelwerk markieren die Stelle, an der Tanjas Leiche vermutlich seit den Morgenstunden des 7. Juni 2007 lag, dem Tag ihres Verschwindens.

An einer Fußgängerbrücke über die E 51, die zum Campus der Hochschule Trier führt, hängt noch immer ein Suchplakat mit ihrem Foto, das Freunde der 21-Jährigen nach deren Verschwinden an den Eisengittern festzurrten. „Wo ist Tanja? Wir vermissen dich. Insgesamt 30.000 Euro Belohnung für sachdienliche Hinweise.“ Die Ränder des Plakats sind im Laufe der Jahre wellig geworden, die Telefonnummer, unter der sich eventuelle Informanten melden konnten, kaum noch zu lesen. Allein die Frage, wo Tanja all die Jahre war – diese Frage ist seit dem Montag vergangener Woche beantwortet.

Am Stuckradweg, einer schmalen, von Wald gesäumten Straße, die um den Campus herumführt, erinnert eine kleine Gedenkstätte an die tote Studentin. Auf dem Boden stehen auch heute wieder frische Blumen und Grablichter. Ein kniender Engel aus Stein hält mit beiden Armen ein Herz mit der Aufschrift „Wir vermissen dich“ umschlungen. Der Suchaufruf aus dem Jahr 2007 ist ergänzt worden durch aktuelle Zeitungsberichte über das Auffinden von Tanjas Leiche. Daneben hängt ein namenloses Dankesschreiben „für die große Anteilnahme und Mithilfe von euch allen“.

Auf einem der nahen Parkplätze des Campus’ ist Tanja vor acht Jahren ein letztes Mal von Freunden gesehen worden. Hier findet in der Nacht zu Fronleichnam ein gigantisches Sommerfest statt: sechs Livebands, mehrere Bühnen, rund 10.000 Besucher. Bis in die Morgenstunden dröhnt die Musik über das weitläufige Gelände der Hochschule. Gegen vier Uhr, das wird die Polizei ein paar Tage nach Tanjas Verschwinden bekanntgeben, feiern noch etwa 5000 Menschen auf den zur Partymeile umfunktionierten Parkplätzen.

Leidenschaft fürs Bogenschießen

Die 21-Jährige wohnt noch bei ihren Eltern in Korlingen, einem idyllisch gelegenen 900-Seelen-Örtchen bei Trier. Sie ist das einzige Kind von Waltraud und Karl-Hans Gräff, eine fröhliche junge Frau mit einem großen Freundeskreis und einem ungewöhnlichen Hobby. Sie ist Mitglied in einem Verein für Bogenschießen. Eines der letzten Fotos zeigt sie am Sonntag vor ihrem Tod bei einem Schießwettbewerb. Waltraud Gräff fährt die Tochter gegen 20 Uhr nach Trier-Tarforst. Tanja will sich vor dem Fest noch mit Freunden treffen, die sie erst kürzlich kennengelernt hat. „Sie ist als gesunder, froher, fröhlicher Mensch um die Ecke gegangen. Und sie ist nie mehr zurückgekommen“, erinnert sich Waltraud Gräff in einem Fernsehbeitrag an die letzte Begegnung mit ihrem einzigen Kind.

Seit zwei Jahren lebt sie allein in dem Einfamilienhaus mit der großen Terrasse. Karl-Hans Gräff ist vor zwei Jahren im Alter von 68 Jahren gestorben. Bis heute ist das Zimmer der Tochter unverändert. An der Wand hängen Filmplakate und eine „To-do“-Liste für die Uni. Auf dem bunt bezogenen Bett sitzen Plüschtiere, als warteten sie geduldig auf die Rückkehr ihrer Besitzerin. Allein die Engelsfigur und der Gedenkstein für Tanja vor dem stillen großen Haus, die frischen Blumen und die halb abgebrannten Teelichter, die Nachbarn und Freunde aufgestellt haben – sie erzählen in diesen Tagen eine ganz andere Geschichte.

Späte Telefonate am Abend des Verschwindens

Tanja trifft an jenem verhängnisvollen Abend erst gegen 23.30 Uhr mit ihren Freunden auf dem Campusgelände ein. Die Fete ist in vollem Gange, schon bald verliert man sich im Gewühl. Gegen 3.55 Uhr trifft ein Freund sie an einem Bierstand wieder – und wird von einem bis heute Unbekannten barsch abgefertigt, „die Tanja“ in Ruhe zu lassen. Drei weitere Freunde sehen sie wenige Minuten später noch einmal an dem Bierstand. Diesmal ist sie in Begleitung von zwei unbekannten Männern, von denen zumindest einer identifiziert und von der Polizei befragt wird – wenn auch erst vier Jahre nach Tanjas Verschwinden.

Zwei Telefonaten mit ihrem Handy sind noch dokumentiert: um 4.01 und um 4.13 Uhr. Dann wird das Gerät abgeschaltet. Tanjas Spur verliert sich im Dunkel der Nacht. Wurde sie nach einem Streit in die Tiefe gestoßen? Hat sie sich auf dem unwegsamen Gelände verlaufen und ist abgestürzt?

Die Hochschule liegt einsam auf einem dicht bewaldeten Hochplateau oberhalb von Pallien. Über eine grasüberwachsene Holztreppe hinter dem inzwischen geschlossenen Restaurant „Weißhaus“ gelangt man schnell in den Wald – und zur vermutlichen Absturzstelle. Eichen und Buchen säumen den schmalen, von Wurzeln überwachsenen Wanderweg, der am Rand des Felsmassivs entlang führt. Nur an einigen Stellen ist er durch ein etwa 1,30 Meter hohes Eisengitter gesichert. Oberhalb von Haus 74 führt eine Art Trampelpfad durch niedriges Gebüsch direkt zur Kante des roten Felsens. Hier steht kein Gitter.

Nach Tanjas Verschwinden wird die Gegend mehrmals abgesucht. Spürhunde und Hubschrauber sind im Einsatz. Polizisten seilen sich am roten Felsen in die Tiefe. In Pallien werden 17 Häuser durchsucht, nachdem man die Hilfeschreie und das Wimmern einer Frau gehört haben will. Auch Tanjas Freunde schalten sich ein. Sie starten eine große Plakataktion in Trier und richten eine Internetseite ein, auf der sie um Hinweise auf den Verbleib der Freundin bitten.

Tanja bleibt verschwunden.

Tanjas Mutter kritisiert Polizei-Arbeit

Acht Jahre später muss sich Bernd Michels, bis 2009 Leiter der Trierer Mordkommission und Chef der „Soko FH“, viele Fragen gefallen lassen. Etwa die, damals nicht gründlich genug nach der Vermissten gesucht zu haben. „Man hätte jeden Stein umdrehen müssen“, sagt Detlef Böhm, der Anwalt von Waltraud Gräff. Das sei offensichtlich nicht geschehen, denn dann hätte man Tanja finden müssen. Waltraud Gräff zeigt sich schon seit Jahren unzufrieden mit der Arbeit der Ermittler. Mögliche Spuren seien nicht genügend verfolgt, Hinweisen nicht nachgegangen worden.

Michels kennt diese Vorwürfe. Nachvollziehen kann er sie nicht. „Sehen Sie sich das Gelände am roten Felsen doch an“, sagt er und erklärt der Reporterin den Weg durch den Wald zur möglichen Absturzstelle. „Dann verstehen Sie, warum wir sie nicht gefunden haben.“ Auch ihm und den Kollegen wäre viel erspart geblieben, hätte man Tanja früher entdeckt. „Dann hätten wir nicht in Bangkok und Gott-weiß-wo suchen müssen, nur weil jemand behauptet hat, sie dort gesehen zu haben.“

2009 ist Michels in den Ruhestand gegangen. Der Fall Tanja Gräff hat ihn nie losgelassen, „Jetzt ist wenigstens diese quälende Ungewissheit vorbei“, sagt er. „Auch wenn man noch immer nicht weiß, was genau passiert ist.“

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