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Flugzeugabsturz in der UkraineDie Geheimnisse von Flug MH17

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298 Menschen sind beim Absturz der malaysischen Maschine gestorben, darunter etwa 80 Kinder.

298 Menschen sind beim Absturz der malaysischen Maschine gestorben, darunter etwa 80 Kinder.

Kiew/Donezk – Die volle Aufmerksamkeit müsste den Opfern gelten. 298 Menschen sind gestorben, darunter etwa 80 Kinder. Viele Passagiere waren mit Flug MH 17 auf dem Weg zu einer Aids-Konferenz in Australien. Menschen, die helfen wollten. Nun liegen ihre verkohlten Leichen auf Maisfeldern im Osten der Ukraine, weil das Flugzeug der Malaysia Airlines, in dem sie saßen, wahrscheinlich abgeschossen wurde.

Mit der Frage nach der Ursache wendet sich die Aufmerksamkeit von den Opfern ab. Denn die Katastrophe von Flug MH 17 ist Teil einer noch größeren Tragödie. Im Osten der Ukraine herrscht seit Monaten Krieg. Dieser Krieg ist an einen Wendepunkt gekommen.

Reaktionen und Reflexe

„Dies ist ein Weckruf für die Welt“, sagt der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Am Tag nach der Tragödie spricht nicht viel dafür, dass die Welt aufwacht. Die Reaktionen in Kiew, Moskau, Berlin und Washington sind reflexartig. Poroschenko weist alle Schuld Russland zu. Kremlchef Wladimir Putin sieht das naturgemäß völlig anders. Das Unglück habe sich über dem Territorium des Nachbarlandes ereignet. „Dort liegt die Verantwortung.“ Die USA widersprechen scharf und verweisen auf die Separatisten.

Die Ermittlungen stoßen auf Hindernisse. Erst Stunden nach dem Absturz erreichen ausgebildete Retter und Experten die weit verstreuten Wrackteile rund 80 Kilometer östlich der umkämpften Gebietshauptstadt Donezk. Separatisten kontrollieren das Gebiet. Sie sind schneller vor Ort, sichern die Flugschreiber. Wo die derzeit sind, sagt erst einmal niemand. 30 OSZE-Beobachter treffen erst am Freitagnachmittag an der Absturzstelle ein. Immerhin kündigt ein Sprecher der Aufständischen eine Waffenruhe an, um internationalen Ermittlern die Arbeit zu ermöglichen.

Der ukrainische Geheimdienst veröffentlicht derweil den angeblichen Funkverkehr der Milizen vom Donnerstag. Da teilen sie mit, sie hätten soeben ein Flugzeug abgeschossen, um dann bestürzt festzustellen, es handle sich um die malaysische Passagiermaschine. Die Echtheit der Aufnahmen ist nicht zu überprüfen. Russische Behörden sprechen sofort von Fälschung. Sie wollen dagegen Aktivitäten eines Radars der ukrainischen Armee in der Gegend festgestellt haben.

Bisher weisen aber viele der Indizien auf die prorussischen Separatisten. Die Absturzstelle liege „im tiefen Hinterland der Donezker Volksrepublik“, gestand der selbsternannte Verteidigungsminister Igor Strelkow am Freitag beinahe stolz ein. Die Schuld am Abschuss wies er weiter von sich.

Viele Fragen, kaum Antworten

Die Auswertung von Satellitenaufnahmen könnte rasch belastbare Daten liefern, vielleicht sogar schon am Wochenende, sind Experten überzeugt. Die Region wird seit Beginn des Konflikts von US-Geheimdiensten permanent aus dem All beobachtet. Sie legten sich bereits fest, dass nur der Abschuss durch eine Boden-Luft-Rakete in Frage komme. Mit Computermodellen werde jetzt die Flugbahn nachgezeichnet und der Abschussort bis auf einige Meter genau bestimmt.

Weder Satellitenbilder noch die Flugschreiber geben wohl auf zwei entscheidende Fragen Antwort: Sind oder waren die Separatisten im Besitz von entsprechenden Waffensystemen? Sind sie in der Lage sie zu bedienen? Für die Antwort auf die erste Frage dient bislang vor allem Sergej Kurginjan als Kronzeuge. Der tritt gern als „Abgesandter der russischen Zivilgesellschaft“ in Donezk auf und ist ein übler Kriegshetzer.

Kiew nennt ihn einen Putin-Berater. Kurginjan brüstete sich zu Wochenanfang in einer auf Video aufgezeichneten Rede, in kürzester Zeit sei es „mit Hilfe hochklassiger Spezialisten des Brudervolkes“ gelungen, ein erbeutetes Luftabwehrsystem vom Typ Buk gefechtsbereit zu machen. Das Resultat sei der Abschuss eines ukrainischen Militärtransporters und mindestens eines SU-25 Jagdflugzeuges der ukrainischen Luftwaffe.

Selbst den ukrainischen Sicherheitsbehörden liegt jedoch derzeit wenig an diesem Kronzeugen. Ihnen sei nichts gestohlen worden, versichern die Militärs dem Präsidenten Poroschenko. MH 17 müsse von russischem Boden oder mit einem Gerät, das aus Russland kam, vom Himmel geholt worden sein. Um dieser These Nachdruck zu verleihen, wird am Freitag ein Video veröffentlicht, das einen Tieflader mit einem Buk-Raketenwerfer zeigt, der in Eile angeblich nach Russland zurückgebracht wird.

„Bewusst und vorsätzlich“

Einiges spricht jedoch dafür, dass es in den Milizen inzwischen genügend militärischen Sachverstand gibt, der weit über den von gewöhnlichen Partisanen oder einer bunten Landwehr hinausgeht. Geführt wird die Truppe von Igor Girkin, der sich Strelkow nennt und seinen Dienstrang mit Oberst des russischen Geheimdienstes im Ruhestand angibt. Er war als Speznas, als Angehöriger einer Spezialeinheit, die dem militärischen Geheimdienst Russlands unterstellt ist, überall, wo es in den letzten 20 Jahren in Europa Krieg gab. Auch auf der Krim hinterließ er seine Spur. Von dort ging er in den Osten der Ukraine. Strelkow selbst verfügt über Erfahrungen mit Luftabwehrraketen – er diente auch in einer Einheit der russischen Luftabwehr.

Unter dem Druck der Indizien schwenken die Separatisten am Freitag auf eine neue Verteidigung um. Jetzt heißt es, die Maschine sei nicht auf dem gewöhnlichen Kurs gewesen, sondern weiter nördlich. Diese Lesart verbreitet Nowoross.info, das Sprachrohr der Milizen. „Das Flugzeug ist bewusst und vorsätzlich über das Territorium der Donezker Volksrepublik geführt worden.“ Das habe die ukrainische Flugsicherung vorgegeben.

Damit ist wieder der Gegner schuld: „Die Manipulation des Kurses der Boeing ist vollständig identisch mit der bekannten Provokation der südkoreanischen Boeing, die die Amerikaner 1983 über das Territorium der UdSSR geleitet hatten, wo sie abgeschossen wurde,“ zitiert Noworuss.info einen namentlich nicht genannten Experten. Die sowjetische Version lautete seinerzeit, bei dem Abschuss habe es eine tragische Verwechslung mit einem Spionageflugzeug gegeben.

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