30 Jahre nach Super-GAUNeuer Sarkophag für Tschernobyl ist fertig

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Die neue Schutzhülle für die Atomruine von Tschernobyl wird auf Schienen über den Unglücks-Reaktor gefahren.

Die neue Schutzhülle für die Atomruine von Tschernobyl wird auf Schienen über den Unglücks-Reaktor gefahren.

Kiew – Sein Anblick ist monumental. Wie ein gewaltiges, außerirdisches Raumschiff kauert es silbern leuchtend über den Wäldern am Pripjet-Fluß. Industriealpinisten fixieren das 110 Meter hohe Gewölbe mit einer halben Million Schraubbolzen über dem Reaktor, hängen dort winzig wie Ameisen in einer Gletscherwand.

Endmontage in Tschernobyl: Nach sechs Jahren Bauzeit soll am Dienstag die neue Schutzhülle für den explodierten Reaktor 4 des Atomkraftwerks vollendet werden. Er war im April 1986 zerstört worden und hatte den ersten GAU in der Geschichte der Atomindustrie verursacht. Ein insgesamt 1,5 Milliarden Euro teures, hermetisches Bauwerk, dessen zwei Hälften man wegen der hohen Radioaktivität am havarierten Reaktor in 250 Meter Entfernung montierte, und dann auf Spezialschienen über die Reaktorruine und seine erste, inzwischen brüchige, Betonschale schob. Dafür musste vorher mit einem deutschen Spezialkran der 150 Meter hohe und 350 Tonnen schwere Ventilationsturm des Reaktors abgebaut worden, allein diese Demontage kosteten fast zwölf Millionen Dollar. Bis zu 3000 Arbeiter waren im Einsatz.

Gesamtgewicht von 36.000 Tonnen

„Das größte bewegliche Bauwerk der Welt“, die ukrainische Presse ergeht sich in Superlativen. Die Metallhülle wiegt mit Unterbau 36 000 Tonnen, ihre Fläche von 86 000 Quadratmetern entspricht zwölf Fußballplätzen. Garantiezeit: 100 Jahre. „NBK“ lautet ihre offizielle Abkürzung auf Neuukrainisch: „Neues sicheres Containment“. Sie wird auch „Arka“ genannt, das Gewölbe, und „Arka der Völkerfreundschaft“. 94 Prozent der Kosten übernahm das Ausland. Oder einfach „Sarkophag II“, nach dem Sarkophag aus Beton und Stahl, mit dem nach dem GAU todesmutige sowjetische Hubschrauberpiloten und Kranfahrer den heftig strahlenden Reaktor abgedichtet hatten.

„Der neue Sarkophag verschließt das AKW Tschernobyl für immer“, titelt das Massenblatt „Komsomolskaja Prawda na Ukraine“. Ein Irrtum. Darunter schläft weiter ein Untoter, der die Welt bedroht. „Beim GAU sind fünf Prozent der radioaktiven Materie aus dem geschmolzenen Reaktorkern entwichen, sie haben große Teile Europas nuklear verschmutzt“, sagt Vince Novak, Atomsicherheitsexperte der Europäischen Bank für Wiederaufbau, die die Finanzierung organisierte. 95 Prozent der tödlich strahlenden Masse aber steckten noch in Reaktor 4. Das sind geschätzte 193 Tonnen Uran, Strontium, Caesium und Plutonium, bei deren Zerfall zum Teil noch gefährlichere Isotope frei werden. Deren Halbwertzeiten schwanken zwischen 14 und 6537 Jahren. Eine auch zeitlich unendliche Gefahr.

Maximal fünf Minuten Aufenthalt

Die Radioaktivität im Maschinenraum des Reaktors ist nach wie vor so hoch, dass die ukrainischen Techniker dort nur fünf Minuten arbeiten, genug, um ihre tägliche Strahlendosis von 2,5 Mikrosievert abzubekommen. Auch wenn amerikanische Spezialisten für die Nuklearsicherheit zuständig sind, vielen der Arbeiter droht Ähnliches wie den etwa 600 000 sowjetischen „Liquidatoren“, von denen inzwischen über ein Viertel tot ist: Leukämie, grauer Star, Immunmangel, Siechtum.

Die ukrainische Belegschaft der Baustelle verdient zwischen umgerechnet 270 und 420 Euro im Monat. Die Arbeiter beschwerten sich wiederholt über den niedrigen Lohn beim französischen Konsortium Novarka, das den Bau managt. „Ich bin offiziell als Schweißer angestellt, mische aber Beton“, erzählt der Arbeiter Igor Schewtschenko. „Das Essen ist nicht schlecht, wir leben in fünfstöckigen Häusern. Aber wir brauchen doch trotzdem Geld, um unsere Familien zu ernähren.“ Viele, die jetzt auf dem AKW-Gelände malochen, kommen aus dem Bürgerkriegsgebiet im Donbass, für sie sind freie Kost und Logis Grund genug, um trotz der lausigen Bezahlung zu bleiben.

280 Menschen leben noch im Sperrgebiet

Die Experten streiten jetzt, ob man versuchen soll, das teuflische Innere des Kernreaktors zu entsorgen, wenn die neue Hülle steht. Aber es ist unklar, wer das bezahlen wird. Und vor allem woher man die dafür nötige Technologie nimmt. „Der neue Sarkophag ist nur die erste Etappe der Problemlösung“, erklärt Irina Holovka vom Nationalen Ökologischem Zentrum dieser Zeitung. „Sie schafft nur die Bedingungen für die eigentlichen Liquidierungsarbeiten: die Demontage der gefährlichen Teile des alten Sarkophags und die Beseitigung des radioaktiven Mülls im zerstören Reaktor.“ Aber dafür bedürfe es einer noch nicht existierenden Infrastruktur, vor allem für den Umgang mit dem radioaktiven Material. „Noch weiß niemand auf Welt, wie man mit diesen Brennstoffen umgehen soll“, sagt auch der Kiewer Atomwissenschaftler Anatoli Nowoski.

Die Experten klagen, es gäbe auch noch keine Roboter, die strahlendes Material aus dem Inneren des Reaktorblocks 4 entfernen könnten, ohne dabei kaputtzugehen. Ukrainische Offizielle aber reden schon von einem neuen Image für Tschernobyl. Umweltminister Ostap Sermerjak kündigte an, künftig werde man das AKW Tschernobyl mit Sonnenenergie versorgen. Und Witali Demjanjuk, Leiter des Tschernobyl-Instituts für Forschung und Entwicklung, schwärmt bereits von der Sperrzone um Tschernobyl als neuem Wissenschafts- und Ingenieurszentrum für alternative Energien und die Endlagerung oder Wiederaufbereitung radioaktiver Abfälle. „Die Forschungen hier können nicht nur für die Ukraine, sondern für die gesamte Menschheit interessant werden.“

Sperrgebiet als Biotop

280 Menschen soll es in den zerfallenden Dörfern des Sperrgebietes noch geben. Die verlassene Plattenbaustadt Pripjet gilt als Touristenattraktion. Die ukrainische Presse feiert die verbotene und inzwischen ziemlich verwilderte 30-Kilometer-Zone um das Kraftwerk als Biotop der Zukunft. Von metergroßen Welsen ist die Rede sowie von 17 anderswo vom Aussterben bedrohten Tierarten. Vor zwei Jahren fotografierten ukrainische Zoologen bei Tschernobyl einen Braunbär, der erste Bär in der Gegend seit 100 Jahren.

Enorme Zunahme an Krebserkrankungen

Insgesamt halfen rund 600 000 „Liquidatoren“ (zunächst vor allem Mitarbeiter des Kraftwerks und Feuerwehrleute), die Folgen der Katastrophe zu mindern. 134 Arbeiter wurden so stark verstrahlt, dass sie an akuter Strahlenkrankheit litten. 28 starben innerhalb von wenigen Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass rund 2200 Arbeiter vorzeitig an Strahlenschäden sterben werden.

Etwa 116 000 Menschen wurden im Laufe des Jahres 1986 aus den umliegenden Gebieten in Sicherheit gebracht und umgesiedelt.

Seit 1990 wurden mehr als 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland, Russland und der Ukraine gemeldet – eine weit höhere Zahl, als statistisch gesehen zu erwarten wäre. Weil sich Schilddrüsenkrebs sehr gut behandeln lässt, starb nur etwa ein Prozent der Betroffenen an der Krankheit.

Abgesehen von den Schilddrüsenkrebs-Fällen ist der WHO zufolge kein Anstieg der Krebsquote in den belasteten Gebieten festzustellen. Allerdings geht auch die WHO in Prognosen allein unter den Liquidatoren und den Bewohnern der am stärksten betroffenen Zone von etwa 4000 Todesfällen wegen Strahlenschäden bis 2081 aus. (dpa)

Aber die Idylle trügt, nicht nur in Tschernobyl. Iryna Holovko verweist auf den maroden Zustand der gesamten ukrainischen Atomindustrie. „Die meisten Reaktoren arbeiten seit Sowjetzeiten, die Nutzungsfristen von 6 der 15 Reaktoren sind bereits ausgelaufen, in sechs weiteren enden sie innerhalb der nächsten vier Jahre.“ Auch von Europa finanzierte Modernisierungsprogramme könnten keine völlige Sicherheit garantieren. Es gäbe kritische Bauteile wie etwa den Reaktorkorpus, die man nicht auswechseln könne, der Austausch anderer Elemente werde schlicht versäumt. „In der Folge kann es in den alternden Reaktoren zu Pannen kommen. 2016 ist in zwei Reaktoren Kühlwasser ausgetreten, im AKW Chmelnitzki und im AKW Saporoschje, beide Reaktoren mussten für einige Zeit abgeschaltet werden.“

Bleibt nur zu hoffen, dass der gigantische Sarkophag II das einzige Bauwerk seiner Art bleiben wird, das aus den ukrainischen Wäldern herausragt.

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