DeutschtürkenNichts wie raus aus der Türkei – zwei Rückkehrer berichten

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Turkish Airlines 2

Flugzeuge der Turkish Airways am Istanbuler Flughafen

  • Immer mehr Deutschtürken verlassen freiwillig das Land ihrer Vorväter.
  • Andere müssen fliehen, weil sie schon auf der Vernehmungsliste stehen.
  • Zwei Rückkehrer berichten und müssen anonym bleiben.

Köln – Die Minuten an der Passkontrolle des Flughafens wird Kaya F. so schnell nicht vergessen. Kommt er raus oder halten sie ihn fest? F. zeigt dem türkischen Polizisten exakt die Seite mit dem Stempel, die dieser sehen soll. Vor gerade einmal 25 Tagen ist der Deutschtürke von Stuttgart aus in die Türkei eingereist. Kein Grund also eigentlich für den Beamten nach dem blauen Ausweis zu fragen, hofft F. inständig. Für den deutschen Geschäftsmann aus dem Schwabenland heißt es, Nerven zu behalten. Seit dem Vortag nämlich weiß er, dass er, Kaya F., in der Türkei vernommen werden soll. Warum auch immer.

Ein alter Freund hatte ihn verständigt. Ein Mann, der eigentlich der Regierungspartei AKP nahesteht. Und ihn trotzdem warnte. Kaja F., der seit 20 Jahren hin und her fliegt und seine besondere deutsch-türkische Kompetenz für seine Geschäfte vor Ort nutzt – stand plötzlich auf einer dieser Listen. F. buchte Hals über Kopf den nächsten Flug nach Stuttgart. Zu gut kennt er die Lage, um zu wissen, dass 70 bis 80 Prozent der Einbestellten schließlich im Knast verschwinden. Konkret weiß er das von zwei Freunden, die ihre Ware an die vermeintlich falschen, weil angeblich Gülen-freundlichen Geschäftspartner verkauft hatten. Erst nach zehn Tagen kamen sie wieder frei.

Als der Beamte ihn nach einem kurzen Blick in seinen deutschen Pass durchwinkt, gilt erst einmal Entwarnung. Keine Frage nach dem blauen Ausweis, der ihm hätte gefährlich werden können. Der blaue Ausweis ist das Papier, das alle Deutschtürken automatisch besitzen, auch diejenigen, die wie Kaya F. nur den deutschen Pass haben. Darauf vermerkt ist nämlich ihre ID in der Türkei, die ihnen in besseren Zeiten so vieles erleichtert hat: die Arbeitserlaubnis, das Aufenthaltsrecht. Alles ohne lästige Bürokratie. Jetzt aber ist sie eine Falle. Denn dank der ID wissen die Behörden, was jemand so treibt im Land, wie lange er da ist und ob er vielleicht doch bei längerem Aufenthalt ein Visum gebraucht hätte. Das ist es, was die Passbehörde normalerweise interessiert. Nur heute, in Zeiten von Massenverdächtigungen und -verhaftungen, gibt die ID – einmal eingegeben – auch Auskunft darüber, ob jemand zur Vernehmung oder Verhaftung ausgeschrieben ist.

Massenhaft Hass-Mails

Kaya F. geht langsam zu seinem Flieger. Die Angst bleibt. „Man muss mit allem rechnen“, sagt er. Laptop und Handy hatte er vorsichtshalber einem Freund mitgegeben. Erst als er in Stuttgart deutschen Boden betritt, atmet er durch. „Ich hätte wie die Päpste den Boden küssen können“, sagt der Mann und sein noch so fröhliches Lachen kann die tiefe Erschütterung nicht verbergen.

Kaja F. ist normalerweise keiner, der sich Bange machen lässt. Und so hatte er in den letzten Monaten auch offen in den sozialen Medien seinen Unmut bekundet, seinen Unmut über die Entwicklung in der Türkei und das Verfassungsreferendum von Präsident Erdogan. Er fand, das war sein Recht, in einem zivilisierten, demokratisch wählenden Land. Hass-Mails erhielt er daraufhin massenhaft von Deutschtürken aus Deutschland. „Ich mache dich kalt“, hieß es da. Das hat ihn erschrocken. Doch als deutscher Staatsbürger in der Türkei wähnte er sich in Sicherheit. Schlimmstenfalls, dachte er, würde er ausgewiesen. Seine Posts sind dann offenbar doch weiter oben geklickt worden.

„Die Angst ist überall“

Für Kaya F. gab es gute Zeiten und schlechte Zeiten in der Türkei, sagt er. Immer habe man, was die Geschäfte angeht, viel Vorarbeit leisten müssen, Vertrauen schaffen. Aber jetzt sei es dann doch mit den notorisch vorsichtigen Deutschen „heikel“ geworden. Kaya F. kann die ganze Entwicklung nicht fassen. Auch die Menschen in der Türkei hätten sich verändert. „Man spricht leise“, sagt er, noch immer erschrocken über seine Beobachtung. „Die Menschen lachen nicht mehr. Die Angst ist überall“. Und doch wollten die meisten sie nicht wahrhaben. So als wüssten sie nicht, dass Angst die Menschen verändert, ja deformiert, schleichend bis hin zur individuellen Selbstaufgabe. Am Ende glauben sie dann, was sie glauben sollen. F. spitzt es zu: „Allmählich entsteht der Einheitsmensch, so wie Präsident Erdogan ihn haben will.“

Für die Deutschtürken sei die Lage natürlich leichter, gesteht er. „Wer als Deutschtürke die Möglichkeit hat zurückzukehren, der tut das.“ Er kennt immer mehr, die diesen Schritt gehen. Die anderen dagegen erzählten sich immer noch gegenseitig, wie „sauwohl sie sich in der Türkei fühlten“. Und rauchten dabei hektisch eine Zigarette nach der anderen, berichtet der Geschäftsmann von den beliebten Stammtischen, wo sich die Deutschtürken in der Türkei regelmäßig treffen. Rückkehrerstammtische heißen diese und bekommen doch neuerdings eine ganz andere Bedeutung.

Aber auch in Stuttgart – das hat er in den wenigen Wochen nach seiner Flucht festgestellt – macht Kaya F. jetzt den Schnell-Check. „Man erkennt die AKP-Leute am Blick, am Schnäuzer und daran, dass sie von einer anderen, nicht existenten Türkei sprechen sowieso“, sagt er. „Das ist doch brutal, nicht?“

Verfolgungswahn bis zur Rückkehr

Istanbul

Blick auf die Süleymaniye-Moschee in Istanbul

Der Bosporus, so glitzernd in der Morgensonne: Fast andächtig ruhte ihr Blick auf der Szene. Ein Blick, der sie auch nach fünf Jahren in dieser Stadt noch immer verzauberte. Ihre vielen Katzen sprangen umher, alles fühlte sich gut an auf dieser Terrasse hoch über der riesigen Metropole. Der Nachbar hatte sie zum Frühstück eingeladen. Es war Sonntag in Istanbul. Plötzlich sahen sie sie. „Das sind Zivilpolizisten“, sagte ihr Nachbar. „Von uns können die ja nichts wollen“. Sie kamen direkt auf das Haus zu, und der Nachbar geriet in Panik.

Es ist unmöglich mit jemanden, der aus der Türkei geflohen ist, ein kurzes Interview zu machen. Es sind lange, schnell sprudelnde Geschichten, die da erzählt werden. Wie, als müssten sie rausgeschrien werden, bevor einer kommt, der einem wieder den Mund verbietet. Lale E. hätte nicht gedacht, dass sie jemals von sich behaupten würde, dass sie unter Verfolgungswahn leidet. Aber die letzten Monate in der Türkei haben sie das gelehrt.

Richter suchen Asyl

Nach dem Putschversuch in der Türkei haben laut „Spiegel“ Hunderte türkische Staatsbedienstete in Deutschland Asyl beantragt. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lägen mittlerweile rund 450 Anträge von Diplomaten, Soldaten, Richtern und anderen Beamten samt Familien aus der Türkei vor. Ihnen würden Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. (epd)

Aufgebrochen in das Land ihrer Vorfahren war sie 2012. Aus Neugierde und Abenteuerlust. Aus einem schwäbischen Kaff in die Metropole. Mit 30 Jahren und bis dahin guten Jobs, auch bei internationalen Unternehmen, war sie nach Istanbul gezogen. Nichts hatte ursprünglich dafür gesprochen. Die türkische Kultur hatte sie, na ja, sagen wir vorsichtig, abgelehnt. Politik hatte sie nicht interessiert. Und über Präsident Recep Tayyip Erdogan wusste sie nichts. So weit so unbedarft. „Aber es fehlte etwas in meinem Leben“, sagt die junge Frau heute über ihre Motivation. Kinder wollte sie nicht unbedingt. Da kam das Angebot aus der Türkei. Und plötzlich passte es. Die Managerin, eine „tolle Frau“, imponierte ihr.

Sorge um die Tochter

Ihre Eltern dagegen waren entsetzt. Ihr Vater habe drei Monate nicht mit ihr gesprochen, sagt Lale E. Sie wollten nicht, dass die Tochter alleine in die Türkei ging. Aus Sorge natürlich. „In der ersten Zeit bin ich mit einem breiten Lächeln durch diese Stadt gelaufen. Alles war so anders, so spannend, so schön.“ Ihr Türkisch verbesserte sich schnell, was in der Türkei insofern sehr wichtig ist, als die schlechten Kenntnisse und der Akzent der Deutschtürken wenig Anerkennung genießen. Sie wechselte dann doch die Firma, verbesserte sich noch einmal. „In Deutschland hätte ich als Frau für den Job kämpfen müssen. Hier wurde ich genommen, weil ich aus Deutschland war.“

Dann ging es los mit den Gezi-Protesten, mit den Protesten um diesen kleinen Park. Sie wurden vom Staat brutal niedergeschlagen, Menschen starben, andere wurden von den Wasserwerfern fast zu Tode gesprüht. Und Lale E. erkannte plötzlich etwas, was sie in Deutschland als selbstverständlich erlebt hatte. „Gezi hieß plötzlich: Ich will meine Meinung sagen.“ Mit dem Park hatte das nicht mehr viel zu tun.

Gedanken, die Angst machen

Jeder weiß mittlerweile, was daraus geworden ist. Präsident Erdogan habe dem Volk gezeigt, dass er seinen Weg zu noch mehr Macht unbeirrt weitergeht, sagt sie. Unabhängig von dem, was alles passiert sei in den letzten Monaten, seien es die Proteste, die schrecklichen Attentate, das fahrlässige Grubenunglück, die Korruptionsvorwürfe: Der Präsident sei aus allem gestärkt hervorgegangen. Kein Staatsanwalt habe Klage erhoben. „Wie soll ein solcher Staat einmal meine Rechte verteidigen“, fragte Lale E. sich plötzlich. Gedanken wie diese machten ihr Angst. Viele Menschen wollten Willkür und Selbstbedienung nicht sehen, beobachtet sie immer häufiger. „Sie wollen einfach daran glauben, dass Erdogan alles richtig macht.“ Oder trauten sich nicht mehr, das anzuzweifeln.

Auch in ihrer Umgebung werden die Leute immer stiller. Ihre Eltern drängen sie jetzt fast täglich zurückzukommen. Sie aber solidarisiert sich. Schließlich könnten die Türken, die gegen das Regime aufstünden, auch nicht gehen.

Anruf der Mutter bringt die Vorsätze ins Wanken

Dann kam der 15. Juli: der Putschversuch. Eigentlich hätte der folgende Tag ihr großer Tag werden sollen. Eine eigene qualitativ hochwertige Tierfutterproduktion wollte Lale E. präsentieren, sich selbstständig machen. Und Lale E. erzählt, wie sie stattdessen eine Nacht allein und zusammengekauert mit den Katzen auf dem Boden ihrer Wohnung zugebracht hat. Über sich die Jets und Hubschrauber, in der Nähe die Schüsse.

Es war der Anruf der Mutter, der ihre Vorsätze zu bleiben, ins Wanken brachte. „Wer hat dich beschützt?, fragte sie. Du gehörst nach Deutschland, dein Zuhause ist hier.“ Gesagt habe sie das, wie immer, auf Türkisch. Und ihr Ton war eindringlich. Das hat Lale E. am Ende überzeugt.

Die Szene am Frühstückstisch, Tage später, hat es nur noch einmal bestätigt. „Wir alle hatten Angst.“ Die Sicherheitsleute hätten am Ende nur gefragt und seien dann wieder gegangen. „Aber der Schrecken blieb.“ Man entwickele regelrechten Verfolgungswahn, sagt sie. „Ich schaute mich öfter um, zog mich von vielen Bekannten zurück.“ Das machte ihr keinen Spaß mehr. „Denn eine Vermutung, man sympathisiere mit der Gülen-Bewegung oder der kurdischen PKK genügt, und man wird abgeholt“, sagt sie. „Man kann Menschen in der Türkei einfach mitnehmen.“ Sie kennt, wie alle, die erzählen, viele solcher Fälle. „Und weiß man, ob man Feinde hat? Wegen der Katzen vielleicht?“

Als sie beim Rückflug am Schalter steht, hat sie vorher alle Einträge bei Facebook gelöscht. Bloß keine Angriffsfläche bieten.

Lale E. hat wieder einen gut dotierten Job im Rheinland. Und der Blick auf dieses Deutschland hat sich noch einmal geschärft. „Ich habe in der Türkei gesehen, was die Gerechtigkeit in Deutschland wert ist.“

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