Soziologe Rolf Pohl„Militärleben verschärft sexualisierte Gruppendynamik“

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Bundeswehr Versammlung

Ein nachhaltiges Umdenken müsste laut Prof. Pohl nicht nur in der Bundeswehr, sondern in der gesamten Gesellschaft stattfinden.

Gewaltrituale, Mobbing und sexuelle Belästigung: Nach den Vorfällen in der Kaserne in Pfullendorf ist kürzlich ein weiterer Verdachtsfall von Missbrauch unter Soldaten und Soldatinnen in Bad Reichenhall bekannt geworden. Experten weisen darauf hin, dass angezeigte Fälle von sexueller Belästigung beim Militär zwischen 2015 und 2016 um 50 Prozent gestiegen sind.

Professor Pohl, gibt es Faktoren, die Gewaltakte, Demütigungen oder sexuelle Übergriffe beim Militär erleichtern oder gar fördern?

Es gibt eine aggressive und sexualisierte Gruppendynamik bei männlichen Jugendlichen, die das Militärleben verschärft. Denn das Militär ist eine Disziplinorganisation, die den Körper und die Seele beeinflussen soll, damit die Ausbildungskandidaten und -kandidatinnen Teil einer kampfbereiten Maschinerie werden. Dabei gelten Komponenten wie Korpsgeist, Männlichkeitsdruck, Stärke und Überlegenheit. Symbole und Rituale sind mit dieser Vorstellung von soldatischer Männlichkeit und ihrer Herstellung eng verknüpft.

Beruht ein großer Teil des Problems also auf Sexismus und antiquierten Rollenbildern?

Man sagt, das Militär sei zum Teil das Spiegelbild der Gesellschaft. Das gilt auch für den Sexismus, der im Alltag weiterhin sehr verbreitet ist und im Militär in zugespitzter Form auftaucht.  Ein nachhaltiges Umdenken müsste daher nicht nur in der Bundeswehr, sondern auch in der Gesellschaft stattfinden.

Welche Rolle spielen Frauen in dieser Dynamik?

Das ist schwer zu sagen. Seit 2001 dürfen Frauen in alle Verbände der Bundeswehr einziehen – auch wenn sie in den Elite-Verbänden noch wenig vertreten sind. In einer wissenschaftlichen Untersuchung deutete sich bei Soldaten 2005 ein respektvoller Umgang mit Kameradinnen auf Augenhöhe und mit Achtung an. Die gleiche Untersuchung fiel zehn Jahre später völlig anders aus: Das Frauenbild und das Männerbild als Krieger waren wieder sehr konventionell geworden. Man muss dabei beachten, dass Auslandseinsätze mit Kriegserfahrung dazwischen lagen. Dabei war offenbar der Druck, eine kriegerische Männlichkeit zu entwickeln und in die alten Muster zurückzukehren, verstärkt worden. 

Wie verbreitet ist das Problem Ihrer Meinung nach?

In der Geschichte der Bundeswehr gab es immer wieder Skandale, wenn ein Vorfall publik wurde. Aber ich glaube, dass es bei der Zahl dieser Übergriffe, die immer Züge von sinnlosen Initiationsritualen und Männlichkeitsbeweise tragen, eine unglaublich hohe Dunkelziffer gibt. Die Opfer haben oft das Problem, dass sie Kameraden verraten, wenn sie zum Vorgesetzten gehen. Wenn Organisationen versuchen, sexuelle Missbräuche, Kinderprostitution oder Männlichkeitsrituale aufzudecken, stoßen sie meist auf Schweigen. Es wird oft vertuscht und verdeckt.

Ist es denkbar, dass Vorgesetzte nichts von den Übergriffen in ihren Kasernen mitbekommen?

Es gibt Rituale, die unter der Obhut, der Beteiligung oder dem Mitwissen der Vorgesetzten erfolgen. Und es gibt einige, die auf der Ebene der Mannschaft organisiert werden – wie die Mutproben bei den Gebirgsjägern in Mittenwald, die 2010 bekannt wurden. Diese Initiationsrituale sind aus dem Ruder gelaufene spätpubertäre Mutproben: Männlichkeitsbeweise, um dazu zu gehören.

Welche Rolle spielt die Sexualität dabei?

Das große Tabu ist die Homosexualität. Man lebt auch körperlich sehr eng miteinander und deshalb dienen viele Rituale auch dem Beweis der Heterosexualität, was auch in Übergriffe münden kann. Nehmen Sie das Beispiel der gemeinsamen Bordellbesuche – an denen übrigens auch Soldatinnen eventuell teilnehmen. Welchen Sinn macht das und warum erfolgt das immer wieder gemeinsam in der Gruppe?  Meine These ist, dass hier die Männlichkeit und ihre funktionierende Heterosexualität vor den Anderen unter Beweis gestellt werden soll.

Was passiert, psychologisch gesehen, bei der militärischen Ausbildung?

Beim Militär wird das zivile Ich einer Persönlichkeitsumwandlung unterzogen, damit ein militarisiertes und kriegstaugliches Ich aufgebaut werden kann. Das wird durch Regressionsvorgänge und eine gewisse Infantilisierung erzielt. Außerdem müssen die jungen Soldaten lernen, mit der Todesangst umzugehen. Wie radikal diese Umwandlung erfolgt, hängt auch von der jeweiligen Persönlichkeit und möglichen Kampferfahrungen ab. Wenn dabei eine weitere Umwandlung in ein Kriegs-Ich erfolgt ist, ist eine Rückumwandlung ins zivile Ich kaum noch ohne Schäden möglich.

Was sollte sich ändern, damit diese Rituale und Übergriffe ein Ende finden?

Man sollte vor allem grundlegender über das Verhältnis von Militär und Geschlecht und die damit verknüpfte Idee einer vorherrschenden Männlichkeit nachdenken. Es müsste viel häufiger Aufklärungskurse geben – allerdings lässt sich eine andere Denkweise, weg von den traditionellen Mustern, nicht einfach antrainieren. Außerdem steht die Transformation der Bundeswehr in eine weltweit operierende Interventionsarmee, mit der Bereitschaft Krieg zu führen, einer wirksamen Aufklärung entgegen. Solange diese Entwicklung weitergeht, ist daher ein Rückgriff auf traditionelle kriegerische Männlichkeitsmuster wahrscheinlich. Ein wirksames Umdenken müsste daher zuerst in der Politik anfangen.    

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Soziologe Rolf Pohl.

ZUR PERSON

Rolf Pohl (65) ist Soziologe und Sozialpsychologe. Bis Februar 2017 war er Professor am Institut für Soziologie an der Universität Hannover. Als Forscher hat er sich neben der politischen Psychologie hauptsächlich mit Männlichkeit, männlicher Sexualität und Männerbildern sowie mit den psychologischen Aspekten von Gewalt beschäftigt. Die Verbindung von sexueller Gewalt und militarisierter Männlichkeit beim Militär gehört ebenfalls zu seinen Studien.

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