Studie über Europäer beim ISDie Anziehungskraft des Islamischen Staates ist ungebrochen

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Berlin – Vor ein paar Wochen erst lud der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Berlin zu einem Pressegespräch. Dabei referierte Hans-Georg Maaßen die neuesten Zahlen der Deutschen, die nach Syrien oder in den Irak gegangen sind, um sich dort der Terrororganisation „Islamischer Staat“ anzuschließen. Er sprach von 700 Frauen und Männern. Ein neuer Rekord – wieder einmal. Tatsächlich ist der rapide gewachsene IS eine internationale Streitmacht, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hat. Dies belegen alle vorliegenden Informationen ziemlich eindeutig. Von 80 beteiligten Nationen ist die Rede. Propagandistisch verbunden sind sie natürlich durch das Netz.

Wie Daten des International Centre for the Study of Radicalisation und Political Violence (ICSR) ausweisen, standen die arabischen Kämpfer Ende 2014 an der Spitze der Bewegung – aus Tunesien kamen bis zu schätzungsweise 3000 Kämpfer, aus Saudi-Arabien bis zu 2500 sowie aus Jordanien und Marokko je 1500. Dies war angesichts der religiösen, kulturellen und politischen Nähe zu erwarten.

Deutschlands im Mainstream

An zweiter Stelle rangieren radikale Islamisten aus europäischen Nationen – aus Russland ungefähr 2000 Kämpfer, wovon wiederum 1700 Tschetschenen sind; aus Frankreich etwa 1200 und aus Belgien rund 600. Damit bietet das kleine Land Belgien, das nur ein Achtel der deutschen Einwohnerzahl aufweist, fast so viele Kämpfer auf wie die Bundesrepublik. Aber auch das muslimische Bosnien mit vor einem halben Jahr angeblich 330 Kämpfern und die europäisch-asiatische Türkei mit mutmaßlich 600 sind stark vertreten. Vor allem: Es gibt kein Land, das nicht beim IS Flagge zeigen würde. Sogar aus den USA sind 100 Frauen und Männern dabei.

Deutschland schließlich befindet sich im europäischen Mainstream – mit den entsprechend kontinuierlichen und weiter zu erwartenden Steigerungen. Vor knapp einem Jahr war noch von „nur“ 400 Personen die Rede, die nach Syrien oder in den Irak ausgereist seien. Nun sind es besagte 700, darunter ungefähr 100 Frauen. Etwa ein Drittel dieser Ausgereisten soll nach Deutschland zurückgekehrt sein – und 100 sollen ihr Leben gelassen haben, 20 davon bei Selbstmordanschlägen. Ein Ende des Zulaufs ist vorläufig nicht abzusehen.

Nun sind, wie Spiegel online zuletzt herausarbeitete, nicht alle deutschen Syrien-Reisenden tatsächlich Kämpfer. Deren Zahl bezifferte das Onlineportal auf 120. Der Rest leiste anderweitig Hilfe oder stelle sich, im Falle der Frauen, als willfährige Partner zur Verfügung. So oder so ist die Anziehungskraft, die das Kalifat des IS ausübt, außergewöhnlich. Sie resultiert aus der Labilität vieler junger Menschen auf dem europäischen Kontinent – und zwar unabhängig davon, ob es sich um solche mit oder ohne Migrationshintergrund handelt. Sie resultiert überdies aus der Anziehungskraft der Gewalt, die mittlerweile selbst den afghanischen Taliban zu weit geht. Der IS ist nach Aussage der Experten gewissermaßen Teil der globalen Popkultur geworden. Manche fahren in den Semesterferien kurz nach Syrien rüber – bloß um sagen zu können: Ich bin dabei gewesen.

Anwerbung über Social Media

Reisende Islamisten hat es bekanntlich auch schon vor 15 Jahren gegeben. Sie zogen damals nach Afghanistan und Pakistan. Die beiden Länder stehen heute freilich nicht mehr im Fokus der Weltöffentlichkeit und sind nicht zuletzt aufgrund der Entfernung schlecht zu erreichen. Nach Syrien gelangte man zumindest bisher problemlos über die türkisch-syrische Grenze. Zudem haben sich die Mechanismen der Rekrutierung verändert. Anfang des vorigen Jahrzehnts wurden überwiegend die Moscheegemeinden verantwortlich gemacht. Heute läuft die Anwerbung über Social Media oder Bekanntenkreise. Bereits im Mittleren Osten aktive Islamisten wie etwa aus dem nordrhein-westfälischen Dinslaken, von wo die berüchtigte „Lohberger Brigade“ stammt, oder Wolfsburg ziehen andere Islamisten nach. „Ich würde lügen, wenn ich sage, ich bin blind nach Syrien gegangen“, gestand kürzlich ein 27-jähriger Deutsch-Tunesier vor dem Oberlandesgericht Celle.

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