SyrienDer Syrien-Konflikt im Überblick

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Monatelang haben mein Sohn Frederic und ich die Kräfteverhältnisse auf dem syrischen Schlachtfeld recherchiert. Beim IS, bei Rebellen, bei der Regierung, bei Geheimdiensten und bei Denkfabriken. Syrien ist viergeteilt. In ein Regierungs-, ein IS-, ein Rebellen- und ein Kurden-Gebiet. Hier das Minimum dessen, was unsere Politiker über die Kräfteverhältnisse in Syrien wissen sollten:

Der „Islamische Staat“ (IS) hat, anders als die CIA behauptet, in Syrien mindestens 30 000 Kämpfer plus 20 000 im Irak. Die IS-Terroristen mit ihrer oft modernen US-Ausrüstung gelten als die stärksten Kämpfer in Syrien.

Das Rebellengebiet besteht aus vielen Kleingebieten. Zahlenmäßig ist die salafistische „Islamische Front“ (IF) die größte Rebellen-Koalition. Sie umfasst 50.000 bis 65.000 Kämpfer. Unter ihnen: 15.000 bis 20 000 Ahrar al-Sham-Kämpfer, 8000 bis 10.000 Jaysh al-Islam-Kämpfer und 6 000 Kämpfer der Liwa al-Tawhid.

10.000 weitere Kämpfer sind auf kleine lokale, meist islamistische Rebellen-Gruppen verteilt. Sie sind zwar nicht Teil der „Islamischen Front“, kooperieren in ihren Gebieten jedoch eng mit ihr.

Die „Islamische Front“ kämpft und „regiert“ außerdem in fast allen von ihr kontrollierten Gebieten mit Jabhat al Nusra zusammen, dem syrischen Ableger von Al Qaida. Die „Islamische Front“ und Al Qaida sind in Syrien de facto Verbündete. Jabhat al Nusra hat mehr als 20 000 Kämpfer.

Demokratische Rebellen spielen in Syrien militärisch kaum noch eine Rolle. Nur 3 000 bis 5 000 Rebellen kann man mit viel gutem Willen „gemäßigte demokratische Rebellen“ nennen. Wirklich gemäßigt sind auch sie nicht. Im Krieg gibt es keine gemäßigten Rebellen mehr. So wie es im Kampf keine gemäßigten Soldaten mehr gibt. Alles andere ist Theorie und hat mit dem blutigen Alltag von Kriegen nichts zu tun.

Das gilt auch für frühere FSA-Kämpfer. Sie kämpfen heute überwiegend für radikalere, islamistische Rebellengruppen. Nicht nur weil diese erfolgreicher sind. Sie zahlen auch besser.

Zu den Personen

Jürgen Todenhöfer (75) ist Jurist, Publizist und war früher Medienmanager. Von 1972 bis 1990 saß er für die CDU im Bundestag. Ab 2001 trat Todenhöfer vermehrt als Kritiker der US-Interventionspolitik auf. Er bereiste viele Krisengebiete.

Gemeinsam mit seinem Sohn Frederic hielt er sich im Dezember 2014 im Herrschaftsgebiet der IS-Terrormilizen auf. Seine Erfahrungen schildert er in im Buch „Inside IS - 10 Tage im ’Islamischen Staat’“ (C. Bertelsmann), das wochenlang einen Spitzenplatz in der Bestsellerliste belegte.

Lesetipp: „Soldaten“ von S. Neitzel und H. Welzer, 2011, S. Fischer, 528 Seiten.

Da die 3000 bis 5000 „demokratischen Rebellen“ isoliert zu schwach wären, kämpft der Großteil von ihnen jetzt im Norden Syriens mit der Kurdenmiliz YPG zusammen.

Das Kurdengebiet: Die 25.000 bis 30.000 YPG-Kämpfer haben in erster Linie spezifisch kurdische Ziele. Gegen den IS waren sie mit massiver Luftunterstützung der USA bemerkenswert erfolgreich. Sie kontrollieren inzwischen große Gebiete im Norden Syriens. Mit Ausnahme der kurdischen YPG kämpfen in Syrien inzwischen fast alle Rebellen und Terroristen für einen religiösen „Gottesstaat“. Wenn auch unter Umständen mit demokratischen Strukturen, die der Sharia unterstellt würden. Auf keinen Fall kämpfen sie für vom Westen vertretene säkulare Freiheit oder Demokratie. Sie werden schließlich überwiegend von Saudi-Arabien und den übrigen Golfstaaten finanziert und ausgerüstet.

Das Regierungsgebiet: Die staatliche syrische Armee hat zusammen mit den National Defence Forces, paramilitärischen und lokalen Gruppen sowie Kämpfern aus dem Iran und Irak und der libanesischen Hisbollah insgesamt 200 000 bis 220 000 Kämpfer. Etwas mehr als die Hälfte davon kämpft in den Reihen der Armee. Ein weiterer großer Teil kämpft bei den lokalen National Defence Forces und bei paramilitärischen Gruppen.

Das Regierungs-Gebiet hat die größte Bevölkerungsdichte. Über 6 Millionen Syrer sind in die durch Regierungstruppen geschützten Gebiete geflohen.

Fast drei Viertel der im Land verbliebenen syrischen Bevölkerung leben daher inzwischen in Gebieten, die von der Regierung kontrolliert werden.

Im Laufe unserer Recherchen wurde deutlich, dass alle staatlichen Truppen, Rebellen- und Terrororganisationen sowie ihre Verbündeten in West und Ost die Zahl ihrer Kämpfer gerne höher angeben, als es der Realität entspricht. Wir sind davon überzeugt, dass die hier dargestellten Zahlen das militärische Kräfteverhältnis so genau und objektiv wiedergeben, wie es in einem derart chaotischen Krieg möglich ist.

Die Politik sollte diese Kräfteverhältnisse kennen, wenn sie für Syrien sinnvolle Lösungen finden will.

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