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TürkeiEuropa wendet sich nicht ab

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Flucht vor dem Tränengas in Istanbul. Die Polizei löste ein Demonstration für die festgenommenen Politiker und Journalisten auf.

Flucht vor dem Tränengas in Istanbul. Die Polizei löste ein Demonstration für die festgenommenen Politiker und Journalisten auf.

Berlin – Nach Bekanntwerden des EU-Berichts über den Demokratieabbau in der Türkei spitzt sich die deutsche Debatte über den Umgang mit Erdogan weiter zu. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hatte sich wegen der Vorgänge in der Türkei besorgt um den sozialen Frieden in Deutschland geäußert und an Bürger mit türkischer Abstammung appelliert, „innertürkische Konflikte nicht hierher zu tragen“.

Grünen-Chef Cem Özdemir beklagte, Erdogan eskaliere die Lage, um seine Macht zu festigen. Die Türkei sei auf dem Weg in eine „islamo-türkische Diktatur“, sagte er im Deutschlandfunk. Zuvor hatte Özdemir einen Abzug der Bundeswehr aus dem türkischen Incirlik gefordert, von wo sie den Kampf gegen den IS in Syrien unterstützt.

Auch in der SPD-Fraktion sieht man das als mögliche Eskalationsstufe. Am Donnerstag entscheidet der Bundestag über eine Verlängerung des Einsatzes. Der außenpolitische Sprecher der SPD, Niels Annen, sieht die Türkei „auf dem Weg in einen autoritären Staat“, sagte er dieser Zeitung. Eine EU-Mitgliedschaft sei durch Erdogans Politik in weite Ferne gerückt. „Sollte das Land auch noch die Todesstrafe wieder einführen, müssten die Beitrittsverhandlungen ausgesetzt werden“. Falls Ankara sich aber erneut Europa zuwenden sollte, müssten jedoch „unsere Türen offen bleiben“, so Annen. Auch Grünen-Chef Özdemir lehnt einen totalen Abbruch der Beitrittsverhandlungen ab. Strafen gegen Erdogan dürften nicht die Falschen treffen, sagte er. Auch in der Union mischen sich kritische Worte und abwartende Haltungen. So sagte der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU, Jürgen Hardt, dieser Zeitung: „Die Türkei entfernt sich nicht nur deutlich vom gemeinsamen Standard in der EU, sondern auch von den Prinzipien des Europarates und dem gemeinsamen Wertefundament in der Nato.“

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Defizite offen ansprechen

Man müsse diese Defizite offen ansprechen, aber trotzdem „alle Gesprächskanäle offen halten“, so Hardt. „Wir sind davon überzeugt, dass die Mehrheit in der Türkei keine Abkehr von EU, Europarat und Nato will. Diese Kräfte müssen wir ermutigen, sich dem gegenwärtigen Kurs des türkischen Präsidenten friedlich entgegenzustellen.“ Das Vorgehen müssten in Europarat und Nato-Rat zur Sprache kommen, fordert der CDU-Politiker. Konsequenzen für die Bundeswehr in Incirlik sehe er aber noch nicht: „Der Kampf gegen den IS ist im gemeinsamen Interesse Deutschlands und der Türkei.“ Das betonte auch der Unionsfraktionsvize und Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung: „Jetzt, wo es im Kampf gegen den IS in die Endphase geht, dürfen wir die internationale Allianz nicht im Stich lassen“, sagte er dieser Zeitung. „Wir müssen diplomatischen Druck auf die Türkei ausüben, aber dürfen jetzt nicht Incirlik räumen.“ Er erwarte dafür eine Mehrheit in der Koalition. Auch der CDU-Verteidigungspolitiker Bernd Siebert warnte davor, „übermäßig zu reagieren“. Mit Drohungen werde man nichts erreichen. Nach Informationen dieser Zeitung wird in der Koalition jedoch erwogen, die Abstimmung im Bundestag zu verschieben.

Die EU-Kommission stellt der Türkei in ihrem neuen Fortschrittsbericht zu den Beitrittsverhandlungen indes ein miserables Zeugnis aus. So kritisiert die Behörde „Rückschritte“ im Bereich Justiz, Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Sehr kritisch äußert sich die Kommission zudem über die harte Reaktion auf den Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Juli.

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