Pro und Contra Wahlpflicht

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Angesichts der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ist die Diskussion über die Einführung einer Wahlpflicht wieder entbrannt. Tobias Kaufmann, Redakteur der Jüdischen Allgemeinen in Berlin, und Günter Otten, stellvertretender Ressortleiter Politik des Kölner Stadt-Anzeiger, sammeln die Argumente.

Pro: Tobias Kaufmann - Für die Demokratie:

Weder Schläge noch Sprengstoffanschläge musste man fürchten. Es hat nicht mal geregnet, zumindest nicht den ganzen Tag. Und doch war die Wahlbeteiligung in drei deutschen Bundesländern am Sonntag niedriger als in Afghanistan oder im Irak, wo Menschen bei der Stimmabgabe ihr Leben riskieren. Offenbar ist zu wenigen bewusst, dass für das freie, gleiche und geheime Wahlrecht auch in unserem Land Menschen geblutet haben. 1989 haben die Ostdeutschen für dieses Recht demonstriert. Es gibt keinen Grund und keine Entschuldigung dafür, dass so viele Menschen vorgestern ihr Wahlrecht verfallen ließen. Wählen ist für viele Familien ein schönes, beinahe erhabenes Ritual, das ausdrückt, was ihnen diese Demokratie bedeutet. Wem sie nichts bedeutet, der soll für dieses Statement wenigstens aus dem Haus gehen müssen - oder zahlen. Deshalb wird es Zeit, in Deutschland die Wahlpflicht einzuführen.

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Wahlpflicht, das klingt antiliberal, das klingt nach Zwang und Buckelei. Genau das ist es auch. Aber manchmal ist so etwas nötig. Im Vergleich zur Wehrpflicht, an der in diesem Land wider alle Vernunft festgehalten wird, wäre die Pflicht zur Stimmabgabe eine Lappalie. Denn es geht um nichts weiter, als alle paar Jahre mal - und schlimmstenfalls bei schlechtem Wetter - auf die Straße zu treten, den Weg zum Wahllokal zurückzulegen, einen Zettel zu lesen, ein Kreuz zu machen, den Zettel zu falten und in einen Kasten zu werfen. Wem die zur Auswahl stehenden Parteien partout nicht passen, der lässt das Kreuzchen einfach weg.

Zahlreiche Staaten auf der Welt verfahren so, darunter so respektable Demokratien wie Australien oder Belgien. In beiden Staaten zahlen Nichtwähler eine Geldstrafe. Auch hierzulande würden sich zahlreiche Projekte zur Förderung von Bildung und Demokratie über solche Einnahmen sehr freuen.

Die Pflicht zur Wahl zwingt dazu, sich wenigstens ab und zu mit der Republik, mit politischen Programmen und Personen auseinander zu setzen - und sei es nur, um zu dem (dann allerdings unwahrscheinlicheren) Schluss zu kommen, dass man nichts für wählbar hält. Das schadet niemandem. Wegbleiben aber schadet der Demokratie. Es ist ein Unterschied, ob die Hälfte der Wähler einfach zu Hause bleibt, oder ob sie bewusst in der Wahlkabine ihren Stimmzettel ungültig macht. Das erste Verhalten ist nur peinlich. Außerdem ändert es nichts, denn die Motive bleiben im Dunkeln. Das Zweite zwänge die Parteien, sich mit dem Phänomen „Nichtwähler“ ernsthaft zu befassen.

Von geringeren Aufwendungen für Wahlkämpfe bis zur erhöhten Legitimität der Ergebnisse gibt es zahlreiche gute, rationale Argumente für eine Wahlpflicht. Und es gibt ein emotionales: die Ehrfurcht vor den Menschen, die für das Recht auf freie Wahlen gestorben sind - und Respekt vor jenen, die bis heute nicht wählen dürfen.

Contra: Günter Otten - Für die Freiheit

Der Wähler ist ein mündiges Wesen. Er hält sich nicht an Meinungsumfragen, er straft Politiker ab, mit denen er unzufrieden ist, er belohnt gute Arbeit - und er bleibt zu Hause, wenn er meint, mit seinem Kreuz keine Wirkung zu erzielen. Denn er ist ein freier Bürger, der sein Wahlrecht nutzt und sich von den Fesseln der Pflicht befreit hat.

Das gilt übrigens besonders für die Ostdeutschen, die zwar auch in der DDR keine Wahlpflicht kannten, aber unter einem starken gesellschaftlichen Druck standen, die Einheitslisten zu bestätigen. So erreichte man 99,73 Prozent Wahlbeteiligung zur Volkskammerwahl 1986. Wenn nun an der Saale nur knapp 45 Prozent wählen gehen, ist das sicher Besorgnis erregend, aber noch lange kein Grund, den Bürger zum Pflichterfüller zu degradieren.

Eher noch geraten die Politiker in der Pflicht: Haben sie Alternativen zur Regierung aufgeboten? Sind Kandidaten aufgetreten, die glaubwürdiger oder tatkräftiger wirkten als die Regierungsmitglieder? Noch am 18. September 2005 drängte es die Bürger offensichtlich mehr zur Beantwortung solcher Fragen: Merkel oder Schröder? Mehr neoliberaler Reformeifer oder lieber Konservierung des Sozialstaates? - das trieb 78 Prozent bundesweit an die Wahlurnen, und auch in Sachsen-Anhalt 71 Prozent der Wähler. Kein Grund also, an der Demokratie-Fähigkeit im Osten zu zweifeln. Zumal sich auch der südwestdeutsche Wähler am Sonntag ähnlich müde zeigte und mit 53,4 und 58,2 Prozent Wahlbeteiligung vor der Übermacht (oder auch der bewährten Leistung) der Potentaten kapitulierte.

Bleibt allenfalls die Frage, ob die große Berliner Koalition den politischen Streit so weit erstickt, dass die Alternativen nicht mehr deutlich werden. Selbst wenn das wahr wäre, würde eine Wahlpflicht nichts ändern. Auch dann wäre der mündige, freie Bürger gefragt, klare Verhältnisse herzustellen und 2009 nicht wieder eine ausgefuchste Ja-AberWahl zu treffen wie im September 2005.

Und umgekehrt, wie eigentlich müsste man sich eine Wahlpflicht vorstellen? Wie hoch müsste ein Bußgeld ausfallen, um dem mündigen Staatsbürger zur Wahlurne zu zwingen? Wie soll verhindert werden, dass der sich anhaltend Enthaltende zwar in die Wahlkabine geht, dort aber gar kein Kreuz macht? Es hat seinen Grund, dass nur wenige europäische Nachbarn die Wahlpflicht haben: Liechtenstein, Luxemburg, Belgien und Griechenland. Es hat auch seinen Grund, dass in Deutschland kaum einer in Frage stellt, was das Grundgesetz im Paragraphen 38 für den Bundestag exemplarisch vorgibt: Gewählt wird in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“. Kein Wort von Pflicht.

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