Wissenschaft zu InternetsuchtSind wir alle handysüchtig?

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Wenigstens nachts offline? Weit gefehlt

Wenigstens nachts offline? Weit gefehlt

Birgit, 18, aus Sankt Augustin, kommt auf 500 am Tag. Tina, 42, aus Köln, schreibt 80 bis 100. Dirk ist mit 50 Whatsapp-Nachrichten dabei. Genau so viele, schätzt der 44-jährige, liest er an einem normalen Tag.

Julia, 36, lässt sich von ihrem Smartphone wecken. Abends nutzt sie es als Taschenlampe im Bett. Jake, 24, nimmt seines als Ersatz für die Armbanduhr. Davina, 18, schießt mit ihrem täglich zehn Fotos. Anna, 17, schätzt, dass sie ihr Handy sechsmal pro Stunde in die Hand nimmt und 200 Whatsapp-Nachrichten am Tag empfängt. „Für mein Alter und unsere Gesellschaft ist das völlig normal“, findet die Schülerin.

Wir haben Menschen in der Region gefragt, wie sie ihr Smartphone nutzen. Das Ergebnis der kleinen Umfrage zeigt: Es ist für viele Menschen nicht ungewöhnlich, mehr als 100-mal am Tag aufs Handy zu schauen. Zwar nutzen es Jüngere deutlich häufiger als Ältere, für alle aber ist das Smartphone vermutlich der Gegenstand, den sie im Alltag am häufigsten berühren. Das Internet, über das sie permanent Nachrichten verschicken und empfangen, ist so 24 Stunden am Tag ständig in Griffweite.

Weltweit werden über den Messenger-Dienst Whatsapp inzwischen täglich mehr als 20 Milliarden Nachrichten versandt. In Deutschland hat der Dienst nach eigenen Angaben mehr als 30 Millionen aktive Nutzer.

Für einen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ dröselte die Redakteurin Bettina Weiguny kürzlich in Zahlen auf, was der Messenger für ihre damals 14-jährige Tochter Jule bedeutet: „Seit einem halben Jahr nutzt sie Whatsapp, in der Zeit hat sie exakt 33 442 Nachrichten gesendet und 51 012 Nachrichten erhalten. Das sind 184 Mitteilungen, die sie jeden Tag absetzt, und 280, die sie erhält. Jeden einzelnen Tag.“ Man meint, in diesen Zeilen so etwas wie mütterliches Kopfschütteln mitzulesen. Ist das noch normal? Und: Was macht das mit unseren Kindern?

Die Explosion

Der Mann, der diese Frage zu seinem Projekt gemacht hat, trägt an diesem Tag ein gelbes T-Shirt, auf dem ein Hamster mit Fliegerbrille zu sehen ist. Es ist der letzte sonnige Aprilnachmittag, und Alexander Markowetz sitzt im fast leeren Biergarten eines Bonner Cafés. Wenn jemand auf die Sekunde genau sagen kann, was die Deutschen mit ihren Smartphones so anstellen, dann der 38-Jährige.

Markowetz ist Informatiker. Mit seinem Team an der Uni Bonn hat er die App „Menthal“ programmiert. Einmal auf dem Smartphone installiert, zeichnet das Programm im Hintergrund auf, wann der Nutzer sein Gerät an- und ausschaltet und wie viel Zeit er mit welchen Programme verbringt. Die Daten können von den Nutzern eingesehen werden, und sie wandern – mit ihrer Zustimmung – in eine geschützte Datenbank der Uni Bonn. „Menthal“, die App für digitale Diät, hatte anfangs nur ein paar Hundert User. Dann schrieb die Uni eine Pressemitteilung. „Und dann ist die Sache explodiert“, sagt Markowetz.

Die Meldung, die über erste Ergebnisse der App-Auswertung informierte, wurde eine der meistzitierten Pressemitteilungen einer deutschen Universität im Jahr 2014. Zuerst berichtete der „Kölner Express“. Die Schlagzeile: „Bonner Forscher beweisen: Smartphones machen süchtig“. Am Morgen danach stand Markowetz’ Telefon nicht mehr still. Immer mehr Menschen luden sich „Menthal“ aufs Handy. Der Server des kleinen Instituts brach zeitweilig zusammen. Heute hat die Studie 300 000 Probanden.

Damals sei ihm klar geworden, dass es bei diesem Thema „einen ungeheuren Druck“ gebe, so Markowetz. Offenbar haben sehr viele Leute ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Handy-Nutzung.

Jeden Tag: 3 Stunden Mobiltelefon

Bislang gibt es kaum verlässliche Zahlen darüber, wie oft am Tag Menschen ihr Smartphone in die Hand nehmen. Umfragen zu diesem Thema sind chronisch unzuverlässig: vor allem, weil man den eigenen Konsum selbst schwer einschätzen kann. So kam eine repräsentative Umfrage des Instituts Ipsos kürzlich zum Ergebnis, dass Menschen in Deutschland im Schnitt drei Stunden und 40 Minuten täglich im Internet verbringen,16- bis 29-Jährige sogar viereinhalb Stunden. In Wahrheit ist es wohl noch mehr Zeit – zumindest legen das die vorläufigen Analyse der „Menthal“-Daten nahe.

Drei Stunden verbringen Menschen demnach allein mit ihrem Mobiltelefon. 35 Minuten davon gehen für Whatsapp drauf, 15 für Facebook, fünf für Instagram und eine halbe Stunde für Online-Spiele. Telefonieren nimmt nur zehn Minuten in Anspruch.

Erschreckend fanden die Bonner Forscher, zu denen auch der Psychologe Christian Montag gehört, eine andere Zahl: Im Schnitt nahm jeder Nutzer sein Handy alle Viertelstunde zur Hand, zwölf Prozent holten es sogar alle zehn Minuten aus der Tasche. „Geht man davon aus, dass man 15 Minuten braucht, um sich auf etwas wirklich zu konzentrieren, dann können diese Menschen nicht mehr produktiv sein“, sagt Markowetz. Auch sonst sei die ständige Unterbrechung nicht gesund, glaubt der Informatiker. „Was ganz wegfällt, sind die Leerzeiten, die zum Herunterfahren unseres psychischen Systems wichtig sind.“ Wartezeiten zwangen einen früher zum Nichtstun. „Heute gibt es kein Nichtstun mehr.“

Süchtig nach Tweets

Kurosch Yazdi kennt viele, die sich mit Hilfe des Internets ihre Gesundheit ruiniert haben. Er leitet die Suchtabteilung der Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg im österreichischen Linz. 2010 eröffnete er dort eine Spielsucht-Ambulanz. „Eine der ersten Patientinnen, die ich dort behandelt habe, war eine 17-Jährige, die fast jede wache Minute getwittert hat“, sagt der Psychiater.

Die Patientin sei in die Ambulanz gekommen, nachdem sie ihre Lehrstelle verloren hatte. „Sie ist in ihrem Betrieb dauernd auf die Toilette verschwunden, um auf ihr Handy zu schauen. Am Ende hat sie sich sogar mehrmals in der Nacht den Wecker gestellt“, berichtet Yazdi. Die Frau habe unter Nervosität und Schlaflosigkeit gelitten. Ihr Fall habe ihm gezeigt, dass soziale Netzwerke tatsächlich süchtig machen können, sagt Kurosch Yazdi.

Es ist ein kühler Februartag in Köln, als der Psychiater die Geschichte seiner ersten Internetsuchtpatientin erzählt. Yazdi ist zu Gast im Haus der Evangelischen Kirche in Köln, einem ehemaligen Kloster. Früher lebten hier Kartäusermönche im Schweigen. Heute spricht Kurosch Yazdi hier über die Sucht nach Kommunikation.

„Schulpolitischer Aschermittwoch“ heißt die Veranstaltung. Auf einem Büchertisch stapeln sich Exemplare von „Junkies wie wir“, Yazdis aktuellem Buch. Darin schlägt der Psychiater Alarm. „Wir steuern auf ein gesellschaftliches Horrorszenario zu“, schreibt er. „Die Wirtschaft investiert massiv in die Stimulation von Kontrollverlust beim Internetsurfen. Dabei hat sie es besonders auf Kinder abgesehen.“ Sätze, die man eher in einem Boulevard-Blatt erwarten würde als im Buch eines nüchternen Forschers.

Fantasiediagnose „Internet addicition disorder“

Darauf angesprochen, grinst Yazdi. Der Begriff Horrorszenario sei die Idee des Verlags gewesen, gibt er zu. Als Mediziner wisse er sehr gut, dass nur die wenigsten Internetnutzer im klinischen Sinne süchtig seien. „Sucht ist eine Erkrankung, dafür gibt es Kriterien. Und Erkrankungen werden entlang der kulturellen Norm definiert.“ Das heißt: Etwas, das in einer Kultur als normal gilt, kann man fast nicht als Erkrankung bezeichnen. An dieser schmalen Grenze zwischen Normalität und Krankheit bewege sich momentan die Debatte über die Internetsucht.

Der Begriff, der heute als Thema über Fachtagungen schwebt, mit dem Bücher verkauft werden und dem sich ganze Kliniken verschreiben – er war ursprünglich ein Scherz. Der amerikanische Psychiater Ivan Goldberg wollte zeigen, wie schnell sich ein normales Verhalten zur Krankheit umdeuten lässt, und erfand 1995 die Fantasiediagnose „Internet addicition disorder“. Dazu verfasste er eine – satirisch gemeinte – Beschreibung. Schon damals, in den frühen Jahren des digitalen Zeitalters, nahmen viele den Befund ernst.

Heute ist die Internetsucht so etwas wie die Diagnose der Stunde. Tatsächlich steht die Störung kurz davor, in die nächste Auflage des US-Diagnosehandbuchs DSM übernommen zu werden. Als sogenannte Forschungsdiagnose findet man dort bereits die „Internet gaming disorder“ – die Online-Spielsucht. Glaubt man Experten, ist auch die Aufnahme in den ICD-Katalog, nach dem sich Ärzte und Therapeuten in Deutschland richten, nur eine Frage der Zeit.

In Fachkreisen ist die Diagnose ohnehin längst weitgehend akzeptiert. Weltweit gibt es Zentren, in denen sich Abhängige – meist Online-Spielsüchtige – behandeln lassen können, die meisten im IT-Land Südkorea. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit 2012 die Ambulanz für Medienabhängige im LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum. Und auch die Drogenhilfe hat das Thema entdeckt.

Vier Arten der Sucht

„Als es hier 2008 mit der Internetsucht-Beratung losging, war die Drogenhilfe Köln so etwas wie der Paradiesvogel“, sagt Markus Wirtz. Man habe riskiert, von Fachkollegen belächelt zu werden. „Sieben Jahre klingt nicht so fern. Aber damals war die Studienlage bei weitem noch nicht so eindeutig“, sagt der 31-jährige Sozialpädagoge.

Heute spricht Markus Wirtz fast jeden Tag im Besprechungszimmer im ersten Stock der Drogenhilfe in Hürth-Hermülheim mit Betroffenen über ihre Sucht nach dem Netz. Sie sitzen dann vor den gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos des Eiffelturms. Und reden über „World of Warcraft“, „League of Legends“, manchmal auch über Facebook und Instagram.

Die bislang größte Untersuchung zur Internetsucht in Deutschland ist aus dem Jahr 2011. Forscher der Universität Lübeck befragten damals mehr als 15 000 Menschen zu ihrem Online-Verhalten. Das Ergebnis: „Auf Grundlage der Auswertung ergibt sich eine geschätzte Häufigkeit von 1 bis 1,5 Prozent für das Vorliegen einer Internetabhängigkeit.“ Bis zu vier Prozent der Deutschen pflegten einen problematischen Umgang mit dem Netz. Die Zahlen bei den Jüngeren liegen noch deutlich höher.

Schaut man genauer hin, so sind es – nach jetzigem Kenntnisstand – vor allem vier Dinge, die eine Internetsucht auslösen können: Online-Rollenspiele wie „World of Warcraft“, Cyber-Pornographie, soziale Netzwerke und das sogenannte Compulsive Surfing, das ziellose Surfen durchs Netz. „Die Spieler sind die größte Gruppe, sie sind meist männlich und jung“, erklärt Wirtz. Von Cybersex sind den Studien zufolge nur wenige Menschen abhängig, die meisten sind männlich und über 40. Unter denen, die süchtig sind nach sozialen Netzwerken, sind dagegen vor allem Frauen.

Geborgenheit im Rudel

Was genau eine Sucht ins Rollen bringt, ist noch nicht bis ins Detail erforscht. Psychologen gehen davon aus, dass Risikofaktoren wie Depression oder Angst eine Rolle spielen. Sicher ist, dass Online-Spiele oder Whatsapp an das Belohnungssystem im Gehirn andocken: Jede neue Nachricht, jeder Erfolg in einer „Quest“ löst einen Ausschüttung des Glückshormons Dopamin aus. Und soziale Netzwerke können uns nur deshalb so packen, weil sie Befriedigung für unser Ur-Bedürfnis nach „Geborgenheit im Rudel“ versprechen, wie Kurosch Yazdi das nennt.

„Ein Leidensdruck oder ein Problembewusstsein entsteht bei Internetsüchtigen erst ziemlich spät“, sagt Markus Wirtz. Ein typischer Fall sei der 17-Jährige, der acht Stunden am Tag Computer spielt. „Alle leiden darunter, nur er nicht – zumindest, solange er vor dem Computer sitzt“, sagt Wirtz. „Er hat ja Freunde, Kontakt und Erfolg. Und im besten Fall stellt die Mama noch die Pizza an den Rechner. Warum sollte er etwas ändern wollen?“

Bei Internetsüchtigen liegen die Folgen, anders als bei vielen Substanzabhängigkeiten, meist auf psychosozialer Ebene – sie entwickeln etwa eine Depression oder eine soziale Störung. „Die wiederum können mit dem Computerspiel ganz wunderbar ausgeblendet werden.“ Die negativen Konsequenzen erwachsen dann eher aus dem Umfeld, sagt der Suchtberater. „Es gibt Stress mit der Familie, der Freundeskreis verkümmert, beruflich schwinden die Perspektiven.“ Oft suchen sich Betroffene erst auf Druck von Angehörigen Hilfe, die unter der Situation stärker leiden als sie. Hinzu kommt: „Wir sprechen von Medienabhängigkeit in einer mediatisierten Welt. Da eine Grenze zu ziehen ist schwierig und muss deshalb mit Vorsicht geschehen.“ Es bestehe die Gefahr, eine ganze Generation künstlich krank zu machen. „Aber nichts zu tun wäre noch gefährlicher.“

Tod vor dem Rechner

Wer wissen will, wie groß die Gefahr werden kann, sollte sich in ein taiwanesisches Internetcafé setzen. Oder mit Bert te Wildt reden. An diesem Frühlingsabend hält sich der Psychotherapeut blinzelnd die Hände vor die Augen. Die Scheinwerfer, die das Podium des Kölner Stadtgarten beleuchten, strahlen ihm frontal ins Gesicht. Neben ihm sitzt die Moderatorin Katty Salié, die, ganz TV-Profi, tapfer ins Helle guckt. Te Wildt sei „der“ Experte in Deutschland, wenn es ums Thema Internetsucht gehe, sagt Salié.

Te Wildt leitet seit 2012 die erste Ambulanz für Mediensüchtige in NRW. Vorgestellt wird an diesem Abend sein Buch „Digital Junkies“. Darin schildert er auch jene Geschichte, die er heute unter der Discokugel des Stadtgartens erzählt: „Als in einem taiwanesischen Internetcafé ein 23-jähriger exzessiver Online-Rollenspieler starb, blieb sein Tod etwa neun Stunden lang unbemerkt“, berichtet te Wildt. Nach einer durchspielten Nacht sei der Mann in seinem Sessel zusammengesunken, während seine Hände auf der Tastatur liegen blieben. „Die Totenstarre war bereits eingetreten, als man ihn mit ausgestreckten Armen vom Computer abrückte.“

Dieses Internetcafé könne man durchaus symbolisch verstehen, sagt der Suchtforscher. Als Sinnbild für eine Gesellschaft, die so auf ihre Bildschirme fixiert ist, dass sie die für Folgen der Technologie blind geworden ist. Denn: „Im Grunde ist die Allgegenwart unserer Abhängigkeit vom Internet nicht mehr zu übersehen.“

Die Definition von Schlaf

Das eine Prozent Süchtige, von denen einige vorm Computer zusammenbrechen, seien nicht sein Thema, sagt der „Menthal“-Programmierer Markowetz. Er frage sich vielmehr, wie man mit der allgemeinen Abhängigkeit der restlichen 99 Prozent umgehen sollte. Sein Vorschlag: Statt Laptops in alle Klassenräume zu bringen sollte man Schülern lieber Strategien der Selbstbeschränkung lehren – und Arroganz. „Die Arroganz, nicht jedes Youtube-Video anklicken zu müssen und nicht auf jede Nachricht sofort zu reagieren.“ Schon jetzt gebe es Eltern ganzer Schulkassen, die sich kollektiv verabreden, ihren Kindern abends das Handy auszuschalten.

Und dann muss Markowetz kurz lachen über eine Absurdität: Ganz nebenbei sei „Menthal“ mit seinen 300 000 Nutzern auch die weltgrößte Schlafstudie, die jemals gemacht wurde, sagt er. Aus den Daten lasse sich herauslesen, wann und wie lange die Nutzer schlafen. Die Zeit ohne Handykontakt: Das ist, im Jahr 2015, die Definition von Schlaf.

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