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„Alles inklusive“Wut, Erschöpfung, Liebe - über das Leben mit einem behinderten Kind

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„Alles inklusive“ erzählt von dunklen Stunden, bunten Momenten und neuen Horizonten.

Mareice Kaisers Tochter war erst vier Jahre alt, als sie starb. Ihr Tod aber hat unglaublich viele Menschen berührt. Denn seit der Geburt des Mädchens hatte ihre Mutter auf dem Blog Kaiserinnereich von ihrem gemeinsam Leben erzählt – und viele hatten ihre Geschichte verfolgt. Eine besondere Geschichte: Denn „Kaiserin1“, wie sie im Blog heißt, kam mit mehrfacher Behinderung zur Welt.

Als das Mädchen Ende 2015 starb, überbrachte Mareice Kaiser die Todesnachricht auf ihrem Blog damals mit einem Zitat aus dem Lied „Ein Elefant für dich“ von „Wir sind Helden“. Daraufhin posteten viele User unter dem Hashtag #einelefantfuerdich einen Elefanten für das verstorbene Mädchen, um ihr Mitgefühl auszudrücken.

Alles drin, an Leben

Nun hat Mareice Kaiser die Geschichte ihrer Tochter in einem Buch aufgeschrieben. Es trägt den sehr passenden Titel: „Alles inklusive“. Denn es geht hier natürlich auch um Inklusion, aber längst nicht nur. Sondern es ist wahrlich alles drin in diesem Buch. An Emotionen. An Stimmungen. An Leben.

Der Leser darf mit auf die „tour de force“, wird von Anfang direkt hineingeworfen in die Situation der werdenden Eltern. Und ist schon ganz nah dabei, wenn Greta - so heißt die große Tochter im Buch – auf die Welt kommt. Beim ersten Moment des Schocks, als nach der Geburt klar wird, dass etwas nicht stimmt.

„Die Ärztin, schreit: ‚Sie muss weg!’ Thorben fragt: ‚Was ist los?’’ Ich, schreie: ‚Was ist los?’ Alles dauert nur Sekunden. Dann ist sie weg. Mein Kind ist da und weg. Ich spüre nichts und habe nur eine Frage: ‚Ist sie tot?’ Niemand hat eine Antwort für mich.“

Von Darmrohren und Notfällen

Ohne beschönigende Worte, aber doch in einer leichten, bildstarken Sprache erzählt Mareice Kaiser von den ersten Wochen und Monaten mit ihrem behinderten Baby. Eine Zeit, in der die Sorge, die Ungewissheit und nicht zuletzt Gretas Pflege die Eltern vor unerwartete Probleme und logistische Herausforderungen stellt. Greta kann weder alleine essen, noch selbst ausscheiden. Sie muss immer beatmet werden. Plötzlich geht es um die richtige Größe von Darmrohren, um ständig piepende Monitore und explodierende Sauerstoffflaschen. Der Leser versteht ganz deutlich: Auf so etwas kann keiner jemals vorbereitet sein.

Die Eltern müssen sich in so vielen Momenten überwinden. Und auch erst einmal verstehen, was passiert. Sie haben mit den eigenen Vorstellungen zu kämpfen, die komplett auf den Kopf gestellt werden.

„Ein nicht hörendes Kind? Für Thorben und mich der Super-GAU. Greta würde es gar nicht geben, würde die Musik nicht so eine wichtige Rolle in unserem Leben spielen. Schon in der Schwangerschaft haben wir viel Musik gehört, Thorben hat CDs zusammengestellt, die wir mit Greta hören wollten. Ein Leben mit Greta ohne Musik? Unvorstellbar.“

Fehldiagnosen und scheiternde Inklusion

Die Autorin erzählt vom komplexen Alltag mit Greta und der lauernden Angst vor dem wiederkehrenden Notfall: Wenn das Kind plötzlich ins Krankenhaus muss und es um alles geht. Das Buch schönt nichts und beschreibt auch die Momente der Eskalation, die Phasen totaler Erschöpfung, Überforderung und Panik. Oft stehen diese in Zusammenhang mit Ärzten, Pflegern und Erziehern, die alles nur noch schlimmer machen - mit Fehldiagnosen, unsensiblen Aufklärungsgesprächen, Ignoranz und Grenzüberschreitungen.

Es wirkt nach vielen Erzählungen geradezu höhnisch, dass in Deutschland rein theoretisch sehr viel Wert auf Inklusion gelegt wird. Kaiser zeigt an vielen Situationen des Alltags auf, dass Idee und Realität oft weit auseinander gehen. Zum Beispiel im Kampf mit dem Behördendschungel oder der schwierigen Suche nach einem integrativen Kita-Platz. Aber auch im Vorurteil, dass eine Mutter mit behindertem Kind nicht arbeiten sollte. Dieses Buch ist deshalb auch eine Streitschrift für gelingende Inklusion.

„Eine glitzernde Discokugel hängt an Gretas Bett“

Und doch ist „Alles inklusive“ alles andere als ein Lamenti-Buch. Im Gegenteil. Es ist voll von glücklichen, fröhlichen, stolzen Momenten. Augenblicken der Dankbarkeit. Darüber, dass es Greta gibt. Und die vielen Menschen, die sich an ihr freuen und der Familie mit Herz und Hand zur Seite stehen. Die Physiotherapeutin, die das Kind mit ihrer Spontanität zum Jauchzen bringt. Der Pfleger, der das Mädchen „eine Süße“ nennt. Die kleine Kita-Freundin, die es gar nicht interessiert, dass Greta anders ist.

Ein besonders schönes Kapitel ist das von Gretas zweitem Geburtstag, den die Familie notgedrungen im Krankenhaus feiern muss – der aber trotzdem etwas ganz Besonderes wird.

„Enge Freund_innen haben Geschenke geschickt, aber auch entfernte Bekannte. Nach einer Stunde Auspacken und Dekorieren liegt Greta inmitten von Geschenken in ihrem Partybett. Das Glücksschwein schwebt durch den Raum. Eine glitzernde Discokugel hängt am Kopfende von Gretas Bett.“

Von Ablehnung und Hass: „Sie ist das Kind, vor dem sich alle fürchten.“

Begleitet man Greta und ihre Eltern durch das Buch, wird auch deutlich, dass behinderte Kinder in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabuthema sind. Dass das gesellschaftliche Normbild, wie etwas oder jemand zu sein hat, mächtig wirkt. Gretas Familie erlebt Berührungsängste, Ablehnung und Vorurteile. Und bekommt oft zu spüren, dass Greta nicht willkommen ist. Besonders erschreckend sind die Hass-Kommentare, die Mareice Kaiser auf ihrem Blog bekommen hat.

„’Lebt ihr behinderter Nachwuchs immer noch? Wie lange denn noch? Ist ja auch teuer für den Steuerzahler.’“

Immer wieder werden die Eltern auch gefragt, ob sie vorher nicht wussten, dass ihr Kind eine Behinderung hat. In Zeiten immer ausgeklügelter Pränataldiagnostik ist es für viele schlicht keine Option, ein Kind mit Behinderung zu bekommen.

„Meine große Tochter ist das Kind, vor dem sich alle werdenden Eltern fürchten. Sie ist das Kind, wegen dem pränatale Untersuchungsmethoden entwickelt wurden. Sie ist das Kind, für – nein, gegen – das es Schwangerschaftsabbrüche gibt.“

Müssen Menschen immer einen Nutzen haben?

In den stärksten Stellen des Buchs entlarvt die Autorin die Werteprinzipien der Leistungsgesellschaft, indem sie die scheinbar einfachsten Gedanken und Fragen formuliert: Warum werden Menschen in unserer Gesellschaft nur über ihre Funktion und ihren Nutzen definiert?

„Dass es mir manchmal schwer fällt, Greta anzunehmen, liegt nicht an Greta. Es liegt an allen anderen, die immer wieder Gretas Defizite aufzählen, statt auf ihre Talente zu sehen. Die nur schauen, was sie ist – oder noch eher, was sie nicht ist – und nicht, wer sie ist. Und was wir alle von ihr lernen können.“

Von Aufklärung und Liebe

Für diejenigen, die bisher wenige Berührungspunkte mit behinderten Menschen hatten, ist dieses Buch aufklärerisch im besten Sinne. Es öffnet eine Tür zu einer Lebensrealität, die in unserer Gesellschaft sonst kaum öffentlich zu sehen ist. Es ist die Chance zu mehr Verständnis - und hoffentlich zu mehr Teilhabe.

Was man aber vor allem versteht und spürt, ist die Liebe: Dass dieses Mädchen im Leben vieler Menschen zärtliche Spuren hinterlassen hat. Dass sie große Schwester und Tochter und Freundin war, Teil unserer Gemeinschaft. Dass sie eine Lücke hinterlässt. Und dass es an diesem Punkt überhaupt keine Rolle mehr spielt, ob sie nun eine Behinderung hatte oder nicht.

Buchtipp: Mareice Kaiser, Alles inklusive, Fischer Verlag, 2016

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