Anonyme SamenspendeWas es bedeutet, ein Spenderkind zu sein

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Wie geht es Kindern, die nicht wissen, wer Papa ist?

„Fassungslos und verunsichert begann sie sich wie von außen zu betrachten. Sie schaute sich ins Gesicht, um zu prüfen, ob es ihres sei“ – als Stina erfährt, dass sie durch eine Samenspende gezeugt wurde, ist sie 26 Jahre alt. Sie fühlt sich entwurzelt und hinterfragt plötzlich ihre eigene Identität.

Stina ist eines der „Spenderkinder“, die Wolfgang Oelsner und Gerd Lehmkuhl in ihrem gleichnamigen Buch porträtieren. Für viele Paare oder Singles ist eine Samenspende die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches. Aber was ist mit den Kindern? Was bedeutet es, ein Spenderkind zu sein?

Für Stina waren da von Beginn an widersprüchliche Gefühle: Die späte Offenbarung sei schlimm gewesen, aber auch erleichternd. „Nun verstand Stina, warum sie sich in ihrer Familie oft fremd gefühlt hatte und ihre Eltern sich manchmal seltsam verhalten hatten“, schreiben die Autoren über Stinas Schicksal.

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„Das Schlimmste ist die Ohnmacht“

„Das Schlimmste ist die Ohnmacht“, sagt die heute 35-Jährige „und die Macht der anderen“, etwa die von Reproduktionskliniken, die Kindern Informationen vorenthielten, obwohl diese einen Anspruch darauf hätten. Erst im Jahr 2015 bestätigte der Bundesgerichtshof in einem Urteil, dass auch Kinder, die mithilfe einer anonymen Samenspende gezeugt wurden, das Recht haben, zu wissen, wer ihr Vater ist.

Um die Öffentlichkeit für die Situation der Spenderkinder zu sensilibisieren, gründete Stina den Verein „Spenderkinder“, der 90 erwachsene Mitglieder hat. Für sie ist es auch ein Weg, sich der eigenen Biografie wieder zu ermächtigen.

Über 100.000 Deutsche per Samenspende gezeugt

Über 100.000 Menschen sollen in Deutschland Schätzungen zufolge per Samenspende gezeugt worden sein, wobei vermutlich nur etwa zehn Prozent überhaupt davon wissen. Immer mehr Paare können dank der modernen Reproduktionsmedizin Eltern werden. „Künstliche Befruchtung ist längst eine weit verbreitete Methode der Fortpflanzung; jede 50. Geburt geht inzwischen darauf zurück“, schreiben Oelsner und Lehmkuhl. 

Umso wichtiger sei es, auf die ohne Zweifel auftretenden Fragen der Spenderkinder vorbereitet zu sein. „Werden Antworten verschwiegen, verzerrt oder manipuliert, kann die Wirkung kontraproduktiv sein. Das Verheimlichte kann sich dann zum alles beherrschenden Lebensthemaentwickeln.“

Einblicke in die Welt eines Spenderkindes

Die meisten Studien zum Thema legten nahe: „Je früher die Aufklärung erfolgte, desto besser gelingt es den Spenderkindern, mit ihrer Situation zurechtzukommen, keine negativen Gefühle gegenüber ihren Eltern zu entwickeln und eine stabile Identität zu bilden.“ Zu einem späteren Zeitpunkt löse sie dagegen „eher Wut, Misstrauen, Enttäuschung und das Gefühl, hintergangen worden zu  sein," aus.

Aufklärung deutlich vor dem siebten Lebensjahr

„Auch wenn Kinder erst ab einem Altern von sieben Jahren das Konzept der Vererbung verstehen, spricht vieles dafür, wesentlich früher darüber zu reden und dies als fortlaufenden Prozess zu verstehen“, so die Autoren. Auch Stina hätte sich einen frühere Aufklärung über ihre Herkunft gewünscht. „Dann können Eltern und Kinder ohne das Geheimnis zwischen ihnen offen und ehrlich miteinander umgehen“, so die 35-Jährige.

Suche kostet Zeit, Mühe und Geld

Nach der Offenbarung folgt bei vielen Betroffenen eine  Suche, die zur Lebensaufgabe werden kann, die häufig sehr viel Zeit, Mühe und Geld kostet. Dabei wird dieses Aufspüren des „Spenders“ oder „Erzeugers“ immer mehr zur Fahndung nach dem „Vater“.

Die Haltung ihm gegenüber sei geprägt von „Neugier, Interesse und einem Wunsch der Kontaktaufnahme, aber auch von einer gewissen Zurückhaltung“, nicht in sein Leben eindringen zu wollen, so die Autoren. Vor allem auf sein Aussehen seien die Kinder gespannt.  „Doch auch nach Eigenschaften wird gesucht, die die Kinder bislang in ihrer Familie vermissten.“

Durch die Bildung des  Spenders fühlt sie sich bestätigt

Für Stefanie ging diese Suche positiv aus: Ihr Spendervater, ein heute 60-jähriger Mediziner, der in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft in einer Großstadt lebt, lud die 28-Jährige gleich nach der Kontaktaufnahme mit ihrem Freund zu sich ein. „Stefanie fühlt sich durch dessen akademische Bildung aufgewertet und in ihrem bisherigen Bildungsstreben bestätigt“, schreiben die Autoren über die junge Frau, die immer höher hinaus wollte als der Rest ihrer Familie.

Stefanie hat auf einmal eine Großfamilie

Stefanie freut sich darüber, dass sie ihrem leiblichen Vater, der als Student mehrfach als Samenspender aktiv wurde, ähnlich sieht. Auch die Erweiterung ihrer kleinen Familie findet sie positiv, denn durch einen DNA-Test ist herausgekommen, dass sie unter den Spenderkindern noch mehrere Halbgeschwister hat. Hinzu kommt: Das Verhältnis zu ihrer Mutter und dem „sozialen“ Vater, dem Mann, den sie jahrelang für ihren leiblichen Vater hielt, verbessert sich deutlich.

„Er sollte schon wissen, dass es mich gibt“

Die 30-jährige Lea dagegen sucht noch immer nach ihrem Vater, den „Wurzeln unter dem anderen Fuß“, wie sie sagt. Ihr Beispiel verdeutlicht, wie viele Hürden den Spenderkindern oft in den Weg gestellt werden. „Lea klagt derzeit gegen die damalige 'Kinderwunschpraxis' auf Herausgabe der Spenderdaten“, berichten die Autoren. Ob sie ihren Vater jemals kennenlernen wird, bleibt ungewiss. Lea findet jedenfalls: „Er sollte schon wissen, dass es mich gibt.“

Wolfgang Oelsner, Gerd Lehmkuhl: Spenderkinder. Künstliche Befruchtung, Samenspende, Leihmutterschaft und die Folgen. Fischer & Gann, 257 Seiten, 19,99 Euro.

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