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Co-ParentingWenn Fremde miteinander Eltern werden

Lesezeit 7 Minuten
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Christine Wagner und Gianni Bettucci waren nie ein Paar – haben aber ein gemeinsames Kind.

Wenn Milla später einmal von ihren Eltern erzählen wird, könnte das so klingen: „Sie haben sich im Internet kennengelernt. Ein Liebespaar waren sie nie. Aber sie sind gute Freunde.“ Millas Mutter Christine Wagner und ihr Vater Gianni Bettucci haben sich nur aus einem Grund zusammengetan: Beide wollten ein Kind. Und zwar eines, das von Mutter und Vater zusammen erzogen wird. Eben Milla. Sie ist jetzt zweieinhalb.

Das Familienmodell, in dem sie aufwächst, heißt Co-Parenting. Der Begriff steht für: gemeinsam Eltern sein. Das klingt nicht revolutionär. Vielmehr nach dem bekannten Mutter-Vater-Kind-Modell. Doch der Name Co-Parenting wird benutzt für Ex-Ehepartner, die trotz Liebes-Aus ihren Nachwuchs als Team betreuen. Und vermehrt auch für Eltern, die nie ein Paar waren – wie bei Milla. „Wir probieren etwas Neues“, stellt Theatermanager Gianni Bettucci klar.

Auf den ersten Blick eine normale Familie

Auf dem Klavier in Christine Wagners Wohnung in Berlin-Neukölln stehen Noten für Kinderlieder. Im Regal reihen sich Elternratgeber wie Remo Largos „Babyjahre“ und Kinderbuch-Klassiker wie die „Raupe Nimmersatt“ aneinander. Die Fenster sind geschmückt mit bunten Herbstblättern, die Milla gesammelt hat. Abwechselnd sitzt die Kleine auf Mamas oder Papas Schoß.

Der Vater wohnt aber nicht dort, sondern fünf Minuten entfernt. Er kommt häufig vorbei. Alle drei lesen, spielen und knuddeln. Regelmäßig wechselt die Tochter auch ihr Zuhause und wohnt bei ihm.

Ärztin Christine Wagner, 33, lernte Millas Vater über das Internetportal Familyship kennen. Sie selbst hatte es vor vier Jahren mit ihrer damaligen Partnerin gegründet, aus eigenem Interesse. Sie suchte einen Mann, um ein Baby zu bekommen und großzuziehen. Als gute Freunde, nicht als Liebespaar.

Anfangs eher für Lesben und Schwule wie Wagner und Bettucci gestartet, entdecken verstärkt auch Heterosexuelle solche Co-Parenting-Börsen. Als „eine Option, sich den Kinderwunsch zu erfüllen“, sagt die Chirurgin. Unter den aktuell rund 1500 angemeldeten Frauen und Männern seien etwa 40 Prozent heterosexuell.

Ein Blick in die USA zeigt: Dort gingen in den vergangenen Jahren mehrere solche Internet-Vermittler an den Start. Vieles dreht sich ums Bieten und Suchen von Samenspenden. Aber auch ums Finden von Co-Eltern. In Großbritannien sind diese Kontaktseiten ebenfalls angesagt.

Der Freiheitsdrang dominiert die Partnerschaft

Für Trendforscher Ulrich Reinhardt passen Design-Familien ohne Sex und Romantik zu größeren Veränderungen: zu einem Individualismus, bei dem der Freiheitsdrang die Partnerschaft dominiert. „Viele Frauen wollen sich den Kinderwunsch auf alle Fälle erfüllen. Der Wunsch steht dann über anderen Erwägungen wie Liebe“, sagt der Experte der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen.

Auch die spätere Familiengründung fördert neue Muster. Denn wer mit Ende 30, Anfang 40 noch keinen Partner hat, ist nicht mehr so offen. „Genau für diese Menschen sind solche ‎Portale eine letzte Ausfahrt zur Familie“, meint der Leipziger Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky.

Ist Familie gründen im Netz tatsächlich so einfach? Eigenes Internetprofil anlegen, Erziehungspartner suchen, Kontakt aufnehmen, Kennenlernen? Nicht ganz.

Schwanger durch die „Bechermethode“

Der Italiener Bettucci, der in Berlin lebt, gehörte zu den ersten Nutzern der Familyship-Plattform. Er schrieb mehrere Frauen an. Auch die Gründerin. Beim ersten Date war klar: Die Chemie stimmt. Entscheidend seien aber die folgenden Monate gewesen. „Ich wollte, dass wir uns erst ein Jahr lang kennenlernen“, sagt der 42-Jährige. „Ich wollte nicht auf die Funktion eines Samenspenders reduziert werden.“

Die zwei machten Ausflüge. Sie trafen sich mit Freunden, kochten, sprachen über sich, ihre Vorstellungen von Erziehung. Erst dann hätten sie sich für ein Kind entschieden, erzählt die 33-jährige Mutter, während sie mit Milla auf dem Teppich Kugeln durch eine Bahn rollen lässt.

Noch einmal drei Monate dauerte es, bis Wagner ohne Sex mit der sogenannten Bechermethode schwanger wurde. Dabei spritzt der Mann seinen Samen in ein Gefäß. Die Frau führt sich die Spermien – etwa mit einer Einwegspritze – in die Gebärmutter ein.

Sie wurden Eltern! Was ihnen bis heute hilft

Die Absprachen der Kennenlernphase helfen bis heute, wenn es um Rechte und Geld geht: „In Millas Geburtsurkunde stehen wir beide, wir teilen uns das Sorgerecht“, sagt die Mutter. Größere Anschaffungen würden geteilt. „Ansonsten kauft der eine die Schuhe, der andere die Jacke“, berichtet Wagner.

So viel Vorlauf wie Millas Eltern hat die 40-jährige Katja nicht. Ihren wahren Namen möchte sie in den Medien nicht lesen. Sie wünsche sich seit Jahren ein Kind, sagt sie. Doch: „Entweder die Beziehung passte nicht, oder der Mann wollte nicht.“ Jetzt hat sie im Internet einen Schwulen als erziehungswilligen Vater gefunden. Der sei ihr sogar lieber als ein Heterosexueller, in den sie sich unglücklich verlieben könnte. Und einen Beziehungspartner sucht sie parallel.

Die Hormone geben den Takt vor

In der Vergangenheit hatte die Berlinerin viel Zeit in ihre Ausbildung als Schauspielerin gesteckt. Jetzt muss sie sich beeilen. „Die Hormone geben den Takt vor. Seitdem ich 40 bin, machen die Ärzte Druck.“ Nach einigen Monaten des Kennenlernens wollen sie und ihr Freund, der bereits ein Kind mit einer anderen Frau hat, loslegen. „Gern hätte ich mehr Zeit gehabt“, sagt sie.

Katja und andere erweitern mit ihren Lebensentwürfen eine ohnehin bunte Familienlandschaft. Neben der klassischen Kleinfamilie – mit und ohne Trauschein – gibt es viele Alleinerziehende. Dazu kommen die lesbischen und schwulen Eltern mit ihren Regenbogenfamilien. Plus teils wild zusammengewürfelte Patchwork-Konstellationen.

Der Markt der Möglichkeiten ist groß, und er wächst rasant weiter. Das meint der Autor Jochen König (34). Über seine Erfahrungen mit dem Co-Parenting hat er ein Buch geschrieben („Mama, Papa, Kind? Von Singles, Co-Eltern und anderen Familien“).

König bekam seine erste Tochter Fritzi mit einer Partnerin Ende 20. Er übernahm den Großteil der Erziehung. Dann ging die Liebe in die Brüche. Aber König wollte noch ein Kind. Er traf Marie, die lesbisch ist. Als Freunde und Co-Eltern bekamen beide Ende 2014 Lynn. Ziemlich kompliziert das Ganze. Manchmal stöhnt sogar König. Um dann zu sagen: „Ich habe eine grandiose Familie.“

Neue Familienformen „hochgradig problematisch“?

Grandios für die Eltern. Doch was bedeutet Co-Parenting für die Kinder? Wie so oft in Familienfragen sorgen alternative Konzepte für emotionale, manchmal ideologische Debatten. In Blogs ist wegen der zwei Haushalte von Ping-Pong-Kindern die Rede. Oder von selbstsüchtigen Eltern und Ego-Familien.

„Es geht hier nur um die Bedürfnisse von Erwachsenen, sich selbst den Kinderwunsch zu erfüllen und nicht darum, einem Kind ein Zuhause zu geben“, sagt auch Autorin Birgit Kelle („Gendergaga“). Die streitbare Konservative macht sich mit dem Verein Frau 2000plus für traditionelle Familien stark. Die neuen Varianten hält sie für „hochgradig problematisch“.

Das Bild der herkömmlichen Familie erweitern

Die Wiener Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert vertritt eine andere Position: Für Kinder sei es entscheidend, dass sie von feinfühligen Menschen erzogen würden. „Sie brauchen warme, ihnen zugewandte Personen, die die Fähigkeit entwickeln, sich in die Kinder hineinzuversetzen und deren Bedürfnislagen zu erkennen“, betont sie.

Co-Mutter Wagner fühlte sich bei ihrer Tochter anfangs sogar selbst an ein Scheidungskinderinnert. Doch Milla habe sich gut an die zwei Lebensorte gewöhnt. Außerdem möchte Vater Bettucci in die Nachbarwohnung ziehen. Es soll einen Wanddurchbruch geben.

„Familie ist da, wo Kinder sind“, sagt Wagner und reicht Milla geduldig Brezeln. „Ich glaube, dass sich das traditionelle Bild nicht auflöst, sondern es künftig vielleicht ein erweitertes Bild von Familie gibt.“

Ein schnelles Aussterben der herkömmlichen Familie erwarten auch Forscher nicht. „Das traditionelle Familienbild ist nicht aus der Mode gekommen“, stellt Soziologin Claudia Zerle-Elsäßer vom Deutschen Jugendinstitut in München fest.

Zunächst war da viel Skepsis

Das Gewicht der Tradition spüren selbst Bettucci und Wagner. Als die Großeltern in Italien und in Norddeutschland von der Schwangerschaft erfuhren, gab es viel Skepsis. „Sie hätten lieber in Kauf genommen, nie Großeltern zu werden, als in unserer Konstellation“, erzählt Christine Wagner über ihre Eltern. Gianni Bettuccis Vater war begeistert, seine Mutter nicht.

Inzwischen turnt Milla im Blümchenkleid durch die Wohnung. Die Freude hat gewonnen. Bettuccis Mutter strickt Pullover für die Enkelin. Der deutsche Schwiegervater lernt Italienisch, um mit den Verwandten reden zu können. Weihnachten feiern die Familien zusammen, ganz klassisch. Wie Bettucci das findet? „Das ist mir fast schon ein bisschen zu viel.“

(dpa)

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