Freilerner-Mutter erklärtWarum mein Sohn nicht zur Schule gehen musste

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„Ich möchte nicht so über meinen Sohn verfügen“: Stefanie Mohsennia hält die Schulpflicht für falsch.

Lernen? Auf jeden Fall. Aber jeden Tag in die Schule gehen müssen? Für Julian Mohsennia ist die Schulpflicht, „dieser Zwangsgedanke“, schon mit sechs Jahren nur schwer zu ertragen. Seine Familie entscheidet sich daraufhin 2005 dafür, nach Kanada auszuwandern, damit Julian nicht eingeschult wird.

Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 3000 Kinder Freilerner

Auch als die Familie nach Deutschland zurückkehrt, hält sie am Konzept des Freilernens fest. Der Verein Freilerner-Solidargemeinschaft schätzt, dass derzeit etwa 3000 deutsche Kinder Freilerner sind und verzeichnet seit etwa zwei Jahren einen regelrechten Boom, obwohl den Eltern in Deutschland rechtliche Konsequenzen drohen, wenn ihr Kind nicht zur Schule geht.

Julians Mutter Stefanie Mohsennia hat ihren Sohn auf seinem schulfreien Weg immer gefördert und auch ein Buch zum Thema geschrieben. Inzwischen haben der heute 18-jährige Webdesigner und die Bibliothekarin aus Erkelenz die Schulfrei-Community gegründet, damit sich Freilerner weltweit vernetzen können. 

Im Interview erklären die beiden, warum sie vom Konzept des Freilernens überzeugt sind:

Frau Mohsennia, warum wollten Sie ihren Sohn nicht zur Schule schicken?

Stefanie Mohsennia: Die Formulierung an sich ist schon problematisch. Wie kann ich einen anderen Menschen zur Schule schicken, wenn er nicht möchte, ohne Gewalt anzuwenden? Kinder haben in Deutschland ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Ich möchte nicht so über meinen Sohn verfügen. 

Schulpflicht

Es ist in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben, dass Kinder eine Schule besuchen. Die Schulpflicht gilt in der Regel ab dem 6. Lebensjahr und dauert, je nach Bundesland, neun oder zehn Jahre (Vollzeitschulpflicht) bzw. bis spätestens zur Volljährigkeit (Berufsschulpflicht). Die Erziehungsberechtigten müssen dafür sorgen, dass das Kind in die Schule geht, sonst begehen sie eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeldbescheid – und in manchen Bundesländern auch mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann.

Was stört Sie am Schulsystem in Deutschland?

Stefanie Mohsennia: Ich habe nichts gegen das Konzept Schule an sich. Auch das Schulsystem in Deutschland lehne ich nicht ab. Ich bin einfach dafür, dass es – wie in all unseren Nachbarländern – eine Alternative zum Schulbesuch gibt, ein Recht auf Bildung statt einer Schulpflicht. Für einige Kinder mag die Schule der richtige Weg sein. Für meinen Sohn war es nicht der richtige. Er wollte nie zur Schule gehen.

Wie hat sich das bemerkbar gemacht?

Stefanie Mohsennia: Wenn er das lernen sollte, was er vorgesetzt bekam, hatte das einfach keinen Sinn. Und ich wollte ihn nie zwingen, etwas zu tun, was er nicht möchte. Schon in der Spielgruppe machte mein Sohn nicht das, was für die Stunde vorgesehen war. Wenn alle bastelten, spielte er beispielsweise lieber mit Autos. In den Kindergarten wollte er auch nicht gehen. Er war drei Jahre auf einer freien Schule, irgendwann häuften sich aber die Tage, an denen er mit Kopf- oder Bauchschmerzen nach Hause kam.

Julian, woher wussten Sie bereits mit sechs Jahren, dass die klassische Schule nicht das Richtige für Sie ist?

Julian Mohsennia: Diesen Zwangsgedanken, dieses Gefühl, dass ich da jetzt immer hinmuss, fand ich schon als Kind schwer zu ertragen. Wir haben uns damals verschiedene Grundschulen angeschaut und der Frontalunterricht dort hat mich sehr abgeschreckt. In einer ersten Klasse lernten sie gerade den Buchstaben „M“, den ich schon lange lesen und schreiben konnte. Ich hatte zu der Zeit gerade ohnehin eine Phase, in der mich Zahlen viel mehr interessierten als Buchstaben. Als wir die Lehrerin gefragt haben, ob wir uns das Material des Matheunterrichts einmal ansehen konnten, hat sie das abgelehnt. Das sei gerade nicht dran. Ich möchte ja lernen – aber eben das, was mich interessiert.

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Müssen Kinder nicht auch lernen, dass sie nicht immer das machen können, worauf sie gerade Lust haben?

Stefanie Mohsennia: Nein, ich glaube im Gegenteil, dass man sie viel besser fördert, wenn man konkret auf ihre Interessen eingeht und sie das tun lässt, worauf sie Lust haben. Man kann Impulse geben, aber die Kinder entscheiden, welche Impulse sie aufgreifen und welche nicht. Ich halte nichts davon, stattdessen mit ihnen zu schimpfen oder ihnen Konsequenzen anzudrohen. Unser traditionelles Schulsystem ist sehr auf Defizite fixiert. Es geht häufig darum, worin man noch nicht gut genug ist. Beim Freilernen werden dagegen vielmehr die Talente der Kinder gefördert.

Viele Kinder hätten nach dieser Logik nie die Grundrechenarten gelernt, weil sie Mathe hassen.

Stefanie Mohsennia: Sie hätten die Grundrechenarten dann zu einem späteren Zeitpunkt gelernt, nämlich dann, wenn sie das Wissen konkret brauchen und sie auch einen Sinn darin sehen, sich Mathe anzueignen. Im Übrigen kann man den Grundrechenarten im alltäglichen Leben schwer entgehen, beim Einkaufen, beim Kochen und in vielen anderen Situationen.

Homeschooling

In vielen anderen europäischen Ländern besteht keine Schulpflicht, sondern Bildungspflicht. Das schließt die Möglichkeit des Homeschoolings mit ein, bei dem Kinder zuhause unterrichtet werden können. Heimunterricht ist in Deutschland allerdings verboten. Der Begriff Unschooling bezeichnet eine besondere Form des Heimunterrichts. Hier gibt es keine Lehrpläne und keine bestimmten Unterrichtszeiten, das Kind entscheidet sozusagen selbst, wann und was es lernen möchte.

Sie haben sich schließlich entschieden, nach Kanada auszuwandern, damit ihr Sohn nicht zur Schule gehen muss?

Stefanie Mohsennia: Ja, dort ist das Konzept des „Homeschooling“ eine anerkannte Alternative zur Schule. Es gibt teilweise sogar finanzielle Fördermöglichkeiten für Kinder, die zu Hause lernen. In Deutschland begeht man dagegen eine Ordnungswidrigkeit und bekommt unter Umständen einen Bußgeldbescheid und viel Ärger mit den Behörden.

Wie haben Sie ihren Sohn zu Hause unterrichtet?

Stefanie Mohsennia: Wir haben uns am Konzept des so genannten „Unschooling“ orientiert. Dabei wird nicht der Frontalunterricht mit Stundenplänen zu Hause imitiert, sondern das Lernen wird durch die Interessen des Kindes geleitet. Manchmal hat Julian stundenlang  mit kanadischen Münzen gespielt und so rechnen gelernt. In den ersten Wochen in Kanada habe ich ihm englische Bilderbücher vorgelesen und ins Deutsche übersetzt. Mit acht Jahren konnte er genauso gut Englisch lesen wie Deutsch. Wir waren auch in Museen, beim Sport, oder er hat einfach nur vor sich hin gespielt – und kam zu mir, wenn er eine Frage hatte. Ich war zu der Zeit nicht berufstätig und konnte ihn so gut unterstützen.

Julian Mohsennia: Ich finde, meine Mutter ist da den schwierigeren Weg gegangen. Sein Kind einfach jeden Tag in der Schule abzugeben, ist bestimmt einfacher und bequemer.

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Gab es auch Situationen, in denen es für Sie schwierig war, zu akzeptieren, wozu Ihr Sohn gerade Lust hatte oder wofür er sich interessierte?

Stefanie Mohsennia: Er hat in der Pubertät etwa anderthalb Jahre nur vor dem Computer gesessen und Fernsehen geschaut. Oft ist er erst mitten in der Nacht ins Bett gegangen und hat bis mittags geschlafen. Ich habe nicht mit ihm geschimpft oder ihm Vorschriften gemacht. Irgendwann hat er selbst gemerkt, dass es nicht unbedingt praktisch ist, den halben Tag zu verschlafen und seine Schlafgewohnheiten geändert.

Es ist die eine Sache, nicht zur Schule zu gehen. Aber welche Perspektiven hat man heute noch ohne Schulabschluss?

Julian Mohsennia: Man braucht nicht für jeden Beruf einen Schulabschluss. Ich bin heute selbstständiger Webdesigner ohne Schulabschluss. Falls ich doch Informatik studieren möchte, dann kann ich immer noch mein Abitur nachholen. Zwei Freunde von mir, die auch Freilerner sind, haben ihr Abitur kürzlich als externe Prüfung gemacht und nur ein paar Monate dafür gelernt – der eine hat einen Zweier- und der andere einen Einser-Schnitt.

Freundschaften fürs Leben, Klassenfahrten, erste Liebe: Viele Menschen verbinden mit ihrer Schulzeit auch positive Dinge – fehlt Ihnen da nichts, Julian?

Julian Mohsennia: Ich habe bestimmt nicht weniger Freunde, weil ich nicht zur Schule gegangen bin. Die meisten meiner Freunde sind auch Freilerner. Außerdem ziehe ich demnächst zu meiner Freundin nach Frankreich. Ich habe also sicher nichts verpasst.

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