Keine KindheitWas es bedeutet, mit alkoholkranken Eltern aufzuwachsen

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Alkohol Kinder Eltern Sucht

Molly war lieber in der Schule als Zuhause. Da trank ihre Mutter das erste Bier schon zum Frühstück. (Symbolbild)

Das Erste, an das sich Molly erinnert, wenn sie an ihre Kindheit zurückdenkt, ist, wie sie immer Bier holen musste. Für Mama und Papa, am Kiosk. 50 Pfennig bekam sie für jeden Gang. Als Belohnung. Da war sie sechs oder sieben Jahre alt. Mit 10 schämte sie sich für die Tüten mit den klappernden Flaschen darin.

In Deutschland leben etwa 2,6 Millionen Kinder mit suchtkranken Eltern unter einem Dach. Die Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien, NACOA, geht davon aus, dass jedes sechste Kind hierzulande aus einer Suchtfamilie kommt. Es ist eine dauernde Ausnahmesituation, in der diese Kinder leben, oft geprägt von Angst und Unsicherheit, denn Alkoholabhängigkeit bringt starke Stimmungsschwankungen bei den Betroffenen mit sich. Ist Papa heute schlecht drauf? Ist Mama ansprechbar?

„Ich war lieber in der Schule als zu Hause“

Mollys Eltern waren beide alkoholkrank. Niemals wolle sie ihren eigenen zwei Kindern eine solche Kindheit zumuten, sagt die heute 36-jährige. Ihre Mutter trank ihr erstes Bier schon zum Frühstück. Wenn Molly von der Schule kam, torkelte die Mutter bereits oder war schlecht gelaunt, weil sie entweder zu viel oder zu wenig Alkohol getrunken hatte.

„Ich war lieber in der Schule als zu Hause“, sagt Molly heute. Zu Hause, das hieß Unsicherheit. Wie ein Seismograf versuchte das Mädchen, die Stimmung zu erspüren. Meist packte sie sich gleich ihre kleinen Geschwister und ging mit ihnen auf den Spielplatz „Sieh zu, dass du dich nicht blicken lässt, bis die Kleinen ins Bett müssen“, rief ihr die Mutter nach. Manchmal putzte Molly vor dem Gang zum Spielplatz noch die Wohnung. „Ich musste viel zu früh selbständig und erwachsen sein“, sagt sie.

Vielen Kindern suchtkranker Eltern geht es so. Das bestätigt auch Marion Ammelung, Leiterin von update, einer Fachstelle für Suchtprävention –Kinder-, Jugend-, Elternberatung aus Bonn. Ihre Einrichtung bietet ambulante Suchthilfe in Kooperation von Caritasverband und Diakonischem Werk an. Unter anderem veranstalten sie regelmäßige Gruppentreffen für Kinder suchtkranker Eltern.

„Aufmerksamkeit und Liebe meiner Eltern sind in der Bierflasche gelandet“

„Wir bringen den Kindern darin auch Alltagsrituale bei. Viele betroffene Kinder bekommen zu Hause kein regelmäßiges Frühstück oder Mittagessen. Oft decken wir erst einmal den Tisch zusammen und essen etwas.“ Verlässlichkeit, das ist etwas, das diese Kinder erst lernen müssen, weil sie es von zu Hause nicht kennen. „Das einzig Verlässliche in ihrem Leben ist die Unzuverlässigkeit der Eltern“, sagt Ammelung. Wer oder was hilft den Kindern dann?

Molly sagt, ihre Geschwister hätten ihr Halt gegeben. „Aufmerksamkeit und Liebe meiner Eltern sind in der Bierflasche gelandet. Wir Geschwister haben uns gegenseitig getröstet und uns Nähe gegeben“. Für ihre zehn Jahre jüngere Schwester sei sie wie eine Mutter gewesen, sie gab ihr das Fläschchen, kümmerte sich. Heute gebe es ein ganzes Netz an Hilfsmöglichkeiten für Kinder wie Molly, sagt Ammelung. Beratungsstellen, Familienhilfen, Gruppen zum Austausch.

„Meine Eltern hatten nur Trinkfreunde“

Für Molly gab es das alles nicht. Niemand nahm Notiz, so fühlte es sich für sie an. Ihre Eltern versuchten, ihre Sucht zu vertuschen. Sie nahmen die regelmäßigen Kinderarzt-Untersuchungen nicht wahr, gingen nicht zu Elternabenden. Freunde durfte Molly nicht einladen, wenn jemand kam, musste Molly mit ihm oder ihr draußen spielen. Und die Verwandtschaft? Trank selbst. „Meine Eltern hatten Freunde, Trinkfreunde. Da tranken dann alle zusammen“.

„Viele Süchtige suchen sich Subgruppen“, bestätigt Ammelung. Gruppen, in denen sie nicht auffallen. Sie sagt aber auch, dass es heute nicht mehr so leicht für Eltern sei, ihre Sucht zu vertuschen. „Natürlich gibt es eine Dunkelziffer, die nicht erfasst ist. Aber Eltern, Lehrer und Kinderärzte sind heute sensibilisiert für das Thema und können Kindern gezielt Hilfe anbieten, wenn sie merken, dass etwas nicht stimmt.“

Molly half sich selbst. Sie zog mit 16 von zu Hause aus und fand einen Mann, der nie Alkohol trinkt. „Das war ein Auswahlkriterium für mich“, sagt sie. Zusammen mit ihren zwei Kindern leben sie auf dem Land, weit weg vom früheren Zuhause. „Wenn ich in einer anderen Familie aufgewachsen wäre“, sagt Molly, „hätte ich bestimmt auch studieren können.“ Ihren Kindern möchte sie diese Option bieten können.

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