Schläge bis zum TodHäusliche Gewalt hört nie auf, in der Regel wird sie schlimmer

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Häusliche Gewalt Beine Mann Frau zusammengekauert

Mehr als 300 Frauen pro Jahr sterben bei Attacken des eigenen Partners.

München/Schweinfurt – Es war ein sonniger Tag im Sommer 2016: An einer Bushaltestelle im bayerischen Schweinfurt sticht ein Mann von hinten auf eine Frau ein – auf seine Frau. 18 Mal. Autos fahren hupend vorbei. Als ein Zeuge zur Hilfe kommt, liegt die Frau in einer Blutlache. Nur eine Notoperation kann sie in letzter Minute retten.

„Er hat sich bewusst ausgesucht, wohin er sticht. Er hat sich nicht davon stören lassen, dass es am helllichten Tag war, dass es an einer viel befahrenen Straße war, dass zwei Bushaltestellen in der Nähe waren. Er hat in aller Seelenruhe auf seine Frau eingestochen – bis er meinte, dass sie tot ist. Sie hat nur mit Glück überlebt.“

So schildert der Schweinfurter Rechtsanwalt Jürgen Scholl die Tat. Er hat die Frau, die sich selbst dazu nicht äußern will, als Nebenklägerin vor Gericht vertreten, als ihr Mann im März 2017 wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde.

20 Jahre sei das Paar zusammen gewesen, sagt Scholl. „Diese Frau hat die Hölle auf Erden erlebt. Das Wort Martyrium ist schnell gebraucht, aber hier war das wirklich der Fall: ständige Demütigungen, Schläge, Fesselungen.“

Als sie schwanger gewesen sei, habe ihr Mann ihr so stark in den Bauch geschlagen und getreten, dass sie ihr Baby verlor. Das sei aber nach so vielen Jahren nicht mehr nachweisbar gewesen. Als sie sich dann ein Herz gefasst habe und ihn endgültig verließ, kam es zum Angriff an der Bushaltestelle. „Es hat ihn an seiner Ehre gekratzt, dass sie sich von ihm getrennt hat“, sagt der Anwalt.

Seine Mandantin habe sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihren Mann für immer hinter Gittern zu sehen, berichtet Scholl. Der Forderung nach einer Verurteilung mit besonderer Schwere der Schuld und Sicherungsverwahrung kam das Gericht allerdings nicht nach. „Meine Mandantin ist überzeugt davon, dass er sie umbringen wird, wenn er jemals wieder rauskommt.“

Ein Mann tötet seine Partnerin - in manchen Ländern wie Italien wird dieses Phänomen unter einem eigenen Namen wie „femminicidio“ – in Fachsprache Femizid – diskutiert. Das ist angelehnt an das lateinische femina, also Frau. Bei uns ist die Begriffswahl oft allgemeiner, weniger geschlechtsbezogen wie Beziehungstat, Partnerschaftsgewalt und - noch breiter - häusliche Gewalt.

Über 100.000 Frauen in Deutschland erleiden jährlich Gewalt in der Beziehung

In Deutschland wurden im Jahr 2015 nach Angaben des Bundeskriminalamtes, kurz BKA, 331 Frauen von ihrem Partner oder Ex getötet. Insgesamt machten mehr als 104.000 Frauen Erfahrungen mit Gewalt in der Beziehung – Tendenz seit 2012 leicht steigend.

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Das Phänomen der schweren Partnerschaftsgewalt erfahre immer mehr mediale Aufmerksamkeit, sagt Jens Luedtke, Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Uni Augsburg. „Das Dunkelfeld wird heller ausgeleuchtet.“ Er betont zwar, dass es auch Frauen gibt, die in Beziehungen Gewalt ausüben. Aber: „Einfach gesagt: Je härter die Verletzungsfolge wird, desto höher wird der Männerüberschuss.“ Das BKA geht davon aus, dass mehr als 80 Prozent der von häuslicher Gewalt Betroffenen Frauen sind.

Abwärtsspirale der Aggression

Zwar seien Einzelfälle von Kurzschluss-Taten bekannt. Meist handle es sich aber um eine Abwärtsspirale der Gewalt, die zum Strudel werde. „Bis es zu heftiger körperlicher Gewalt kommt, gibt es in den meisten Fällen eine Vorgeschichte, und die schaukelt sich hoch“, sagt Luedtke. „Gewalt gegen die Frau kommt umso häufiger vor, je traditioneller die Familien organisiert und je konservativer die Geschlechterrollenvorstellungen sind.“

Ein kritischer Punkt: das erste Kind. „Wenn Kinder kommen, bedeutet das auch heute noch oft eine Re-Traditionalisierung der Familienorganisation, weil immer noch meistens die Frau zu Hause bleibt. Außerdem können Überforderungen und Überlastungen auftreten.“

Oft, so sagt Luedtke, starten die Probleme, die tödlich enden können, aber auch schon, wenn ein Paar zusammen zieht – „wenn eine Person in den Einflussbereich einer anderen gerät“.

Kira, die eigentlich anders heißt, war gerade zu ihrem Verlobten und seiner Familie gezogen, als ihr Leben aus den Fugen geriet. „Es war ein Samstag, ich bin ins Zimmer rein, und dann habe ich erstmal eine gedonnert bekommen.“ Der Grund: Ein Bekannter von ihr hatte eines ihrer Facebook-Fotos geliked. „Ich war schwanger, und für mich war das ein Schock, weil ich nicht wahrhaben wollte, was da los ist.“

Am Anfang war für Kira alles in Ordnung

Sie stürmte aus der Wohnung – und sah, wie ihr damaliger Verlobter auf dem Gehweg mit dem Auto hinter ihr herfuhr. „Ich bin zur Seite gesprungen.“ Ihr Mann entschuldigte sich später. Sie blieb bei ihm.

Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt

• Im Notfall sollten Opfer oder Beobachter von häuslicher Gewalt die 110 wählen, rät die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes. Die Polizei kann Täter zum Beispiel aus der Wohnung verweisen oder in Gewahrsam nehmen und Schutzmaßnahmen für das Opfer anordnen.

• Telefonische Hilfe für Betroffene gibt es rund um die Uhr, kostenlos und vertraulich beim bundesweiten Hilfetelefon unter der Rufnummer 08000 116 016. Verantwortlich dafür ist das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, die Beraterinnen beherrschen insgesamt 17 Sprachen. Speziell für Kinder gibt es die Nummer gegen Kummer: 0800 111 03 33.

• Hilfe und Zuflucht finden Opfer von häuslicher Gewalt auch bei Ehe- und Familienberatungsstellen, bei Rechtsberatungsstellen, Opferhilfeorganisationen oder in Frauenhäusern. Auf der Webseite www.frauen-gegen-gewalt.de gibt es eine Suchmaschine für lokale Hilfsangebote. 

Es hatte ja alles so schön angefangen: 2013 lernte Kira ihn kennen, im gleichen Jahr, an Heiligabend, machte er ihr einen Heiratsantrag, nach dem ersten Urlaub war sie schwanger. „Ich habe bis dahin ein ganz normales, schönes Leben gehabt“, sagt die junge Frau. Am Anfang sei in der Beziehung alles in Ordnung gewesen. „Wir haben uns super verstanden und alles zusammen gemacht. Er war ein komplett anderer Mensch.“

Dann fingen erste Streitigkeiten an. Er wurde eifersüchtig, wenn sie nicht pünktlich nach Hause kam, weil sie eine S-Bahn verpasste. Als beide im Kino waren und sie dort zufällig einen ehemaligen Klassenkameraden traf, rastete er aus. Kurze Zeit später fingen die Schläge an.

„Vier Wochen vor der Geburt unseres Sohnes hat er mich dann so zusammengeschlagen, dass ich nicht wusste, wo oben und unten ist.“ Sie kam ins Krankenhaus. Er begleitete sie, damit sie nicht verriet, was passiert war. Er drohte, sie umzubringen. Einmal zog er sie mitten in der Nacht an den Haaren aus dem Bett und schlug zu. „Drei Tage später bin ich gegangen.“

Ursula Geiger-Gronau hat schon sehr viele so traurige Geschichten gehört. Seit 2008 arbeitet die Sozialpädagogin für die Münchner Frauenhilfe. Sie weiß, wie Gewalt sich einschleicht in das, was eigentlich Liebe sein soll: „Eifersucht und ein dominantes Verhalten verbunden mit Kontrolle und Abwertung sind erste Warnzeichen.“

Es gibt auch harmonische Phasen

„Die häusliche Gewalt hat eine ganz eigene Dynamik“, sagt Geiger-Gronau. „Es gibt ja immer wieder auch Zeiten, die gut sind. Wir haben hier oft den klassischen Verlauf wie im Lehrbuch: Es kommt zu einem Streit, es kommt zu den ersten Handgreiflichkeiten. Danach kommt erst eine Phase des großen Entsetzens, der Entschuldigung – und dann eine relativ gute und harmonische Zeit, in der jeder sich viel Mühe gibt.“ Beim nächsten Konflikt aber komme die nächste Gewalt-Eskalation. Beide fänden aus dieser Dynamik nicht heraus.

Die große Tragik: Mit der Dauer der Gewalt verliert die Frau nach Angaben Geiger-Gronaus an Selbstbewusstsein, wird oft zusätzlich von Freunden und der Familie isoliert. Oder sie isoliert sich selbst, weil sie sich schämt. „Wenn er dich Miststück nennt und das Letzte, dann fühlst du dich irgendwann auch so“, sagt Kira. Und so scheint der Ausweg aus der Gewaltspirale immer schwieriger.

Andreas Schmiedel, Sozialpädagoge im Münchner Informationszentrum für Männer (MIM), erklärt die Gemütslage vieler Täter so: „Bei denen staut sich etwas auf, und das kann sich in Gewalt entladen. Oder sie haben grundsätzlich dieses Gefühl von Unterlegenheit. In einer gleichberechtigten Paarbeziehung erleben sie sich als unterlegen und wollen dieses Gefühl durch Gewalt korrigieren.“

Schmiedel erläutert: „Wenn bei häuslicher Gewalt nicht interveniert wird, bleibt sie im günstigsten Fall auf dem gleichen Niveau. Aber in aller Regel eskaliert es.“ Gewalt sei eine Entscheidung, sagt er. Aber: „Das ist keine Entschuldigung. Das kann nur das Verständnis erleichtern.“

Kira hat den Ausweg geschafft, ist geschieden und zieht ihren kleinen Sohn heute allein groß. Sie ist dabei, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Ihr Ex-Mann wurde für das, was er ihr angetan hat, verurteilt. „Man wünscht sich die ganze Zeit, dass alles wieder schön und gut wird“, sagt sie. „Aber nichts wird wieder schön und gut.“ (dpa)

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