SchreibabysLauter als ein Düsenjet

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Ein Bild aus dem Fotoalbum: Beruhigen muss Marina Metzner ihr Kind sehr oft, denn Greta ist ein Schreibaby.

Ein Bild aus dem Fotoalbum: Beruhigen muss Marina Metzner ihr Kind sehr oft, denn Greta ist ein Schreibaby.

„Momente“ steht in romantischer Schrift auf dem Umschlag des Fotoalbums. Das Bild darüber zeigt Marina Metzner, wie sie ihre wenige Wochen alte Tochter liebevoll küsst. Das Baby hat die Augen zusammengepresst, die Nase schmerzhaft gekraust und die Lippen geöffnet, als wolle es jeden Augenblick losbrüllen. „Wir haben fast nur solche Bilder von ihr“, sagt die 37-Jährige. Momente der Ruhe, Fotos friedlichen Familienglücks? Fehlanzeige bei den Metzners. Denn Greta ist ein Schreibaby.

Schreikinder sind Babys, die „mehr als drei Stunden am Tag an mehr als drei Tagen der Woche seit mehr als drei Wochen schreien“, so die berühmte Dreierdefinition, die der US-Kinderarzt Morris Wessel schon 1954 aufstellte. Greta, die heute vier Monate alt ist, schafft diese Kriterien spielend. Schon auf der Entbindungsstation sei sie die Lauteste gewesen, sagt ihr Vater Carsten. Gefühlte 16 von 24 Stunden habe sie nicht geschlafen - und viele davon gebrüllt. Erik dagegen, der knapp zweijährige Sohn der Metzners, sei als Säugling viel ruhiger gewesen. „Wenn Greta nicht geschrien hat, war sie in permanenter Unruhe“, sagt der 39-Jährige. „Das Schreien war so extrem, manchmal haben wir uns gefragt: Ist die Kleine vom Teufel besessen?“

Beratung in der Schreiambulanz

Studien zufolge zeigen zehn bis 20 Prozent aller Säuglinge in den ersten Lebensmonaten sogenannte Schrei-, Fütter- oder Einschlafprobleme. Kinderpsychologen sprechen von Regulationsstörungen. „Diese Kinder schaffen es nicht, die auf sie einströmenden Reize zu regulieren, das heißt: sich im psychischen Gleichgewicht zu halten“, sagt der Kölner Kinderarzt und Psychologe Oliver Fricke.

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Schreien sei dann das einzige Mittel, mit dem Babys auf sich und ihre Bedürfnisse aufmerksam machen können. Fricke leitet das Sozialpädiatrische Zentrum der Uniklinik Köln, in dem auch eine Schreiambulanz untergebracht ist. Hier und in einigen anderen Einrichtungen in Köln (siehe Kasten) können sich Eltern von Babys, die exzessiv schreien, beraten lassen.

Auch Katja Meier und ihr Mann Nico (Namen geändert) hatten Probleme mit ihrem ersten Kind. „Unser Sohn hat sehr viel geschrien - viel mehr, als ich das von anderen Kindern kannte“, sagt die 38-Jährige. Vor zwei Jahren, Sohn Moritz war gerade ein Jahr alt, wandten sich die Meiers an Peter Kälble, Therapeut in einer Kölner Schreiambulanz (siehe Interview). „Es war Zufall, dass wir bei Herrn Kälble gelandet sind“, sagt Meier. „Wir wussten gar nicht, dass es solche Stellen gibt.“

Der Kinderarzt, den sie zuvor konsultiert hatten, hatte eine körperliche Ursache für Moritz' Schreien vermutet: Dreimonatskoliken, Bauchweh im noch unreifen Magen-Darm-Trakt. „Er sagte: Da muss der Kleine durch, und verschrieb ihm Tropfen“, sagt Meier. Das Schreien blieb.

Mit den Nerven am Ende

Sozialpädiatrisches Zentrum der Uniklinik, Gebäude 26, Kerpener Straße 62, 50937 Köln, Telefon: 02 21/478 53 37 (Mo-Fr, 9-17 Uhr) oder 02 21/47 89 88 49 (Mo-Do, 9-12 Uhr)

Schreiambulanz des IPR-AKJP (Institut für Aus- und Weiterbildung in Psychoanalyse und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche), Auf dem Römerberg 4, 50968 Köln, Telefon: 02 21/400 97 17, http://schreiambulanz. iprkoeln.de

Schreiambulanz des Kinderschutzbunds Köln, Telefon: 02 21/57 77 70

Schreiambulanz des Alfred-Adler-Instituts, Berrenrather Straße 482a, 50937 Köln, Telefon: 01 73/3 65 32 72

CSH Familienberatung, Knauffstr. 14, 51063 Köln, Telefon: 02 21/6 47 09 31, familienberatung@csh-koeln.de

Arbeitskreis Säuglings-Eltern Psychotherapie Bonn / Rhein-Sieg, Therapeuten-Adressen unter http://schreiambulanz. org

Die Sitzungen werden von den Krankenkassen bezahlt.

Der Therapeut in der Schreiambulanz diagnostizierte dagegen eine zwischenmenschliche Ursache. Säuglingen sei es nur möglich, ihr Verhalten im Austausch mit den Eltern zu regulieren - wenn die Beziehung nur leicht gestört sei, könne es zu Schreiattacken kommen. „Er hat uns geholfen zu verstehen, dass wir ein Kommunikationsproblem haben“, sagt Katja Meier. „Wir haben nicht immer verstanden, was der Kleine von uns wollte, was Müdigkeit, was Hunger, was Überdrehtheit ist.“ Oft hätten Eltern und Kind „aneinander vorbeigearbeitet“, was das Gebrüll noch verstärkt habe. Es war ein Teufelskreis, durch den schließlich alle Beteiligten mit den Nerven am Ende waren.

Auch die Metzners versuchten alles, um ihre Greta zu beruhigen. Sie wälzten Ratgeber, fragten Verwandte, googelten Tipps. „Singen, Herumtragen, Händchen halten, Pucken - wir haben alles probiert“, sagt Marina Metzner. „Nichts hat geholfen“, klagt ihr Lebensgefährte. Kam er vom Schichtdienst nach Hause, wurde er nicht selten von zwei schreienden Kindern und einer weinenden Frau begrüßt. Hat die Kleine Schmerzen? Die Metzners suchten eine Kinderärztin auf, die auf Dreimonatskoliken tippte. Einmal, während einer schlimmen Schreiattacke, packten sie nachts ihre Kinder ins Auto und fuhren von ihrem Wohnort Niederkassel in die Klinik nach Sankt Augustin. „Dort hieß es: Das ist Gretas Charakter, kaufen Sie sich Ohropax“, sagt Marina Metzner.

Systematisch vernetzt

Erst im Januar kam von einer Freundin der Tipp, zur Schreiambulanz der Uniklinik zu gehen. Dort wurde Greta erst untersucht. Danach gab es ein langes Gespräch. „Dabei kam heraus, dass die Kleine das, was um sie herum passiert, nicht gut verarbeiten kann“, sagt Metzner. Diese Regulationsschwäche gebe sich mit der Zeit, die Familie mache alles richtig, erklärte die Therapeutin. „Das hat uns beruhigt“, sagt Metzner.

„Als Familie ist man systematisch vernetzt“, erklärt Oliver Fricke. „Ist das Kind aus der Balance, werden die Eltern gereizter, was wiederum das Kind stresst.“ So könne sich normales Schreien zur Regulationsstörung auswachsen. Oder rasch aufhören, wenn sich die Beziehung entspannt. Die gute Nachricht: „Exzessives Schreien ist meist ein vorübergehendes Phänomen“, so Fricke. Die schlechte: Es ist auch körperlich purer Stress. Studien zeigen, dass Babygeschrei mit bis zu 120 Dezibel lauter sein kann als ein Düsenjet. Ab 85 Dezibel ist am Arbeitsplatz ein Gehörschutz vorgeschrieben.

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