Tödliches FamiliendramaMutter behandelt gesunde Tochter jahrelang wie Todkranke

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Das ist ja wie im Film. Das muss sich Erin Lee Carr gedacht haben, als sie zum ersten Mal die Geschichte von Dee Dee Blancharde und ihrer Tochter Gypsy hörte.

Die US-Filmemacherin Carr hat für den Sender HBO nun eine Dokumentation über das dramatische Leben der beiden Frauen gedreht.

Schon der Trailer von „Mommy dead and dearest“ („Geliebte tote Mutter“) kommt mit der leisen Musik und einem blutdurchtränkten Bettlaken wie ein Thriller daher. Am Ende ist die Mutter tot und die Tochter verdächtig. Hat sie die Mutter umgebracht?

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Das Leben schreibt manchmal die grausamsten Geschichten. Die kleine Gypsy wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die sich aufopferungsvoll um sie kümmert. Das ist auch nötig, denn Gypsy ist krank.

Sie hat Leukämie, leidet an Epilepsie und sitzt wegen Muskelschwundes im Rollstuhl. Hinzu kommen Seh- und Hörbehinderungen. Das jedenfalls behauptet die Mutter. Doch nichts ist, wie es scheint.

Nicht die Tochter, die Mutter ist krank

Dee Dee, Gypsys 48-jährige Mutter, leidet offenbar am so genannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Ihre Tochter ist kerngesund. Doch sie überzeugt selbst Ärzte von den Krankheiten ihrer Tochter, so dass sie handeln.

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Munchausen syndrome by proxy) macht jemand einen anderen Menschen bewusst krank oder täuscht dessen Krankheit vor. Anschließend verlangt der psychisch kranke Täter dann eine fachkundige Behandlung für sein Opfer. Oft sind es Mütter, die ihr Kind auf diese Weise schwer misshandeln. In der Regel wollen die Frauen so Zuwendung für sich und ihre Kinder erreichen. In extremen Fällen gehen die psychisch kranken Mütter so weit, dass ihr Kind an der Misshandlung stirbt. Beim Münchhausen-Syndrom fügen Menschen sich selbst Schaden zu.

Ihren Namen haben Münchhausen- und Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom von dem als Lügenbaron bekanntgewordenen Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen (1720-1797). Der Baron aus Bodenwerder im Weserbergland soll gern in geselliger Runde Aufschneidereien erzählt haben, die von Autoren in späteren Jahren übertrieben dargestellt wurden. (dpa)

Gypsy bekommt Medikamente gegen Epilepsie, die Mutter rasiert ihr die Haare ab. Begründung: sie würden durch die Leukämie-Behandlung eh ausfallen. Sie schottet sich und die Tochter ab, um ganz in ihrer kranken Welt aufzugehen, zur Schule darf Gypsy nicht gehen. Sie sei zu gebrechlich, heißt es. Dabei ist es die Mutter, die in dieser Geschichte nicht gesund ist.

Tatsächlich geht es Gypsy aber irgendwann schlecht. Weil die Ärzte der Mutter glauben, wird das Mädchen in seiner Jugend mehrfach operiert, zwischenzeitlich sogar durch eine Magensonde ernährt. Ihm fallen Zähne aus – als Nebenwirkung des Epilepsie-Medikaments.

Gypsy weiß lange nicht, dass sie gesund ist. Sie weiß nur, dass sie entgegen den Aussagen ihrer Mutter laufen kann. Das erzählt sie später im Interview mit der Regisseurin des Films. Es ist ein Drama, in dem es keine Gewinner gibt.

„Die Schlampe ist tot“. Dieser Post im Juni 2015 auf der Facebook-Seite von Gypsy lässt die Behörden aufhorchen. „Wurde dein Account gehackt?“, fragt ein User. „So etwas hast du du doch noch nie geschrieben, alles klar bei dir?“ Doch nichts ist klar. Außer, dass Gypsys Mutter Dee Dee tot in ihrem Bett liegt. Ermordet mit mehreren Messerstichen.

Was geschah in der Nacht von Dee Dee´s Ermordung?

Der US-Sender HBO sorgt nun mit der Dokumentation zu dieser wahren Geschichte für Aufsehen. Der Film gibt Einblicke in die echten Protokolle nach der Verhaftung von Gypsy, lässt Angehörige, Ermittler und Nachbarn zu Wort kommen. Akribisch versucht die Regisseurin zu ergründen, was in der Nacht von Dee Dees Tod geschah.

Gypsy hatte irgendwann begriffen, was ihr die Mutter über die Jahre angetan hatte. In einem Chat hatte sie zudem ihren neuen Freund, Nicholas Godejohn, kennengelernt. Sie war jetzt 23 und offenbar willens, sich an der Mutter zu rächen. Als die Polizei sie aufgreift, gesteht sie, ihren Freund mit dem Mord an Dee Dee beauftragt zu haben. Im US-Staat Missouri wird sie zu zehn Jahren Haft verurteilt.

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Im Gefängnis fühlt sich Gypsy endlich frei

Sie sei zwar jetzt im Gefängnis, fühle sich aber endlich frei, erzählt Gypsys Vater in einem Interview mit dem US-Sender ABC News. Zu ihm hatte ihr die Mutter damals kaum Kontakt ermöglicht. Heute hat Gypsy nur noch ihn. Ein Drehbuchautor hätte sich das nicht besser ausdenken können. Es ist wahrhaftig wie im Film. (lha)

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