Meine 34 MitbewohnerEin Phantom, das Spuren hinterlässt

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Mit 34 verschiedenen Menschen hat unsere Autorin Kathy Stolzenbach schon gemeinsam in WGs gewohnt. In ihrer Kolumne berichtet sie von ihren Mitbewohnern und dem WG-Alltag.

Mit 34 verschiedenen Menschen hat unsere Autorin Kathy Stolzenbach schon gemeinsam in WGs gewohnt. In ihrer Kolumne berichtet sie von ihren Mitbewohnern und dem WG-Alltag.

Mitbewohner können anstrengend sein. Sie machen Party, wenn ich schlafen möchte oder schlafen, wenn ich Party machen möchte. Sie blockieren das Badezimmer und nehmen ein Vollbad, wenn ich dringend aufs Klo muss. Sie trinken den letzten Schluck Milch – und stellen die leere Packung wieder in den Kühlschrank. Sie nehmen das letzte Blättchen Klopapier – und lassen die Rolle einsam auf dem Halter zurück, ohne für Nachschub zu sorgen. Doch das alles ist Meckern auf hohem Niveau. Denn das wahre Grauen in der WG ist das Phantom. Er schwebt unbemerkt über den Flur und nimmt am WG-Leben nicht teil.

Martin war so jemand. Wochenlang stand sein Zimmer im Wohnheim leer. Normalerweise kreuzten die vom Studentenwerk ausgesuchten neuen Mitbewohner schon vor ihrem Einzug auf, um das Zimmer anzusehen, einzurichten – und vielleicht auch, um uns schon mal in Augenschein zu nehmen. Nicht so Martin. Am Monatsersten warteten wir ungeduldig auf seine Ankunft. Vergeblich. Wir warteten und warteten. Sein Name stand bereits am Klingelschild, aber von ihm keine Spur.

Aus dem Nichts aufgetaucht

Als er dann doch eines Tages aufkreuzte, änderte sich eigentlich fast nichts. Wenn er mal aus seinem Zimmer kam, dann wohl zu einer Zeit, zu der wir das Haus verlassen hatten. Und irgendwann nachts muss er dann wieder zurück geschlichen sein. Manchmal glaubten wir aber auch nur, er sei nicht da. Oft wähnte ich mich allein in der Wohnung, sang vor mich hin, als Martin plötzlich wie aus dem Nichts heraus hinter mir stand. Ich verdanke ihm gefühlt 73 Beinah-Herzstillstände.

Einmal hatte ich sogar die Sorge, ihm könnte etwas zugestoßen sein. „Was, wenn er tot vor seinem Computer liegt?“, fragte ich meine anderen Mitbewohner. Eigentlich gibt es eine strenge Regel bei uns: Wenn die Zimmertür geschlossen ist und niemand „herein“ sagt, bleibt die Tür zu. Irgendwann hielt ich es aber nicht mehr aus. Nach wildem Klopfen öffnete ich Martins Tür und spähte durch einen Spalt. Was ich sah und roch, reichte! Wenn das Chaos einen Namen hat, heißt es Martin. Ich habe mich nicht getraut, unter den Bergen von Klamotten und Unrat nachzusehen, ob Martin tot darunter lag.

Gesprochen habe ich wenig mit Martin. Wie auch? Entweder er schlief oder schlurfte für ein paar Stunden zur Uni. Die restliche Lebenszeit verbrachte er vor dem Computer. Wir haben erst nach einiger Zeit herausgefunden, warum Martin so blass war und wo er viele Nächte verbrachte. Man hätte ihm ein wildes Party-Leben unterstellen können. Doch in Wahrheit daddelte er die Nächte bei einem seiner Zocker-Freunde durch.

Unerträglicher Gestank

Ich kann nicht einmal sagen, ob Martin nett war. Ich weiß überhaupt nicht, wie er war. An WG-Kochabenden oder Partys fehlte er grundsätzlich. Eigentlich ein idealer, weil unkomplizierter Mitbewohner – sollte man meinen. Doch tatsächlich schaffte er es, uns sein Dasein permanent in Erinnerung zu rufen. Etwa dann, wenn nachts Geballer aus seinem Zimmer drang. Oder wenn der Käse seiner Fertigpizza vom Rost getropft war und verkrustet im Ofen klebte. Und wenn Martin dann doch einmal kochte – Nudelauflauf mit Maggifix zum Beispiel – tauchte er anschließend in seine virtuelle Welt ab und hinterließ Töpfe und Auflaufform, die im Laufe der Wochen neues Leben heranzüchteten. Als der Gestank einmal nicht mehr auszuhalten war, stellten wir ihm das Gebilde, das an grün-grau-gelb gefärbte Wattebausche erinnerte, in sein Zimmer. Dort konnte es weiter wachsen und gedeihen.

Eines Tages verschwand Martin so überraschend, wie er gekommen war. Das erfuhren wir aber erst, als ein neuer Mitbewohner vor der Tür stand. Doch alles war mir lieber als ein Phantom. Denn ehrlich gesagt ist es auf Dauer auch etwas gruselig, mit einem Fremden zusammen zu wohnen.

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