Meine 34 MitbewohnerPinkeleimer neben dem Bett

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Mit 34 verschiedenen Menschen hat unsere Autorin Kathy Stolzenbach schon gemeinsam in WGs gewohnt. In ihrer Kolumne berichtet sie von ihren Mitbewohnern und dem WG-Alltag.

Mit 34 verschiedenen Menschen hat unsere Autorin Kathy Stolzenbach schon gemeinsam in WGs gewohnt. In ihrer Kolumne berichtet sie von ihren Mitbewohnern und dem WG-Alltag.

Anna war die Chaos-Queen. Aber die liebenswerteste, die man sich vorstellen kann. Als sie bei uns einzog, hatte sie raspelkurze Haare und einen Gipsfuß. Die Geschichten dazu erfuhren wir erst später. Selten waren wir uns bei einem WG-Casting so schnell einig, dass wir Anna wollten. Sie kam herein gehumpelt, und schwäbelte los in ihrer unverwechselbaren Direktheit. Selten hatte ich so große Schwierigkeiten, Deutsch zu verstehen. Und selten hörte ich jemanden so häufig „Bullshit“, „ficken“ und andere Fäkalvokabeln sagen.

Bei Anna musste immer alles schnell gehen: Sie kochte so schnell, dass die Tomatensoße beim Kochen durch die Küche spritzte. Sie aß so schnell, dass die Hälfte ihres Essens von ihrem Teller oder der Aufschnitt von ihrem Brot fiel. So ging das auch, wenn sie in ihrem Bett vor dem Fernseher aß. Eigentlich musste man sich nur ihre Decke oder ihr Laken ansehen, um zu wissen, was Anna als letztes gegessen hatte. Nach unseren gemeinsamen „Tatort“-Abenden in meinem Zimmer musste ich regelmäßig das Bett neu beziehen und konnte auch gleich den Boden davor saugen.

Pinkeleimer für alle Fälle

Wenn Anna aufs Klo musste, musste auch das schnell gehen. Was zum Problem werden konnte in einer Vierer-WG mit einem Bad. Noch dazu mit einem Mitbewohner, der in aller Gemütsruhe duschte, sich frisierte und rasierte. Daher hatte Anna einen Pinkeleimer in ihrem Zimmer. Für alle Fälle. Praktisch auch, wenn der Alkoholpegel vom Feiern den Mageninhalt aufwirbeln ließ - und die rettende Kloschüssel gleichzeitig vom Hintern eines anderen Mitbewohners in Beschlag genommen wurde.

Anna war nicht nur eine hektische Chaotin, sie war auch ein Tollpatsch. Zu dem gebrochenen Fuß der Eingangsszene kam es, als sie – betrunken – auf einem Festival aus einem Baum gefallen war. Als sie bei uns einzog, stolperte sie gleich am ersten Tag über eine Kante zwischen Flur und Küche – der Gips musste daraufhin noch ein bisschen länger am Fuß bleiben. Eine Tragödie für einen Menschen, für den immer alles so schnell wie möglich gehen muss.

Betrunken Tattoo stechen lassen

Schnell war Anna auch darin, als sie für zehn Monate nach Asien ging, um dort zu arbeiten und zu reisen. Irgendwie war nach einem Monat das Reisebudget aufgebraucht. „Ich habe halt viel gefeiert“, war Annas Begründung, als sie ihre Freunde anschnorrte. Die haben ihr geholfen, die weiteren Monate zu überstehen. (Inzwischen hat sie sämtliche Schulden zurück bezahlt.) Beim Feiern muss es auch passiert sein, dass Anna sich in Thailand ein Tattoo hat stechen lassen: Nun ziert ihr Handgelenk der Name ihrer Langzeit-Affäre. „Ich war halt besoffen“, lautete Annas Entschuldigung.

Zum Glück ist Anna nicht eitel. Sonst hätte sie sich wohl kaum aus Trotz heraus ihre Haare abgeschnitten – auf drei Millimeter. Ihr bester Kumpel hatte noch geflachst: „Traust du dich sowieso nicht.“ Natürlich traute sie sich.

Anna traut sich noch ganz Anderes. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine von vielen über Anna. Leider herrscht das Anna-Chaos inzwischen in einer anderen WG.

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