Schädel-Hirn-TraumaDas kleine Glück des Alltags

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Insgesamt erleiden in Deutschland 270.000 Menschen pro Jahr eine Schädelhirnverletzung, meist durch Stürze oder Verkehrsunfälle.

Insgesamt erleiden in Deutschland 270.000 Menschen pro Jahr eine Schädelhirnverletzung, meist durch Stürze oder Verkehrsunfälle.

Vom Skiunfall des Rennfahrers Michael Schumacher hörte Familie Wannebeyl im Autoradio. Ein schlechter Scherz, dachte Sohn Mats. Mutter Gisela fühlte ein schreckliches Déjà-vu. Und Vater Willy dachte: Es kann also auch anderen passieren. Die Wannebeyls waren auf dem Weg in das Skigebiet, in dem ein Jahr zuvor geschah, was ihr Leben verändert hat – so drastisch, dass Familie heute ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

Informationen und Kontakt zu Selbsthilfegruppen für Menschen mit erworbenen Hirnschäden – auch durch Schlaganfälle oder Herzinfarkte – und ihre Angehörigen gibt es hier: Neuro-Netzwerk Köln-Bonn

www.neuro-netz.info

Selbsthilfeverband Forum Gehirn

www.shv-forum-gehirn.de

Bundesverband Rehabilitation

www.bdh-reha.de

Schädelhirnpatienten in Not e.V. (speziell bzgl. Wachkoma)

www.schaedel-hirnpatienten.de

Hannelore-Kohl-Stiftung

auch telefonisch unter 0228/97845-50 /-51 /-41

www.hannelore-kohl-stiftung.de

Willy Wannebeyl wollte zurückkehren an den Ort, an dem er selbst gestürzt war. Als er schließlich auf der Piste stand, dachte er: Da fahre ich doch auf einem Ski runter! Damals aber muss der erfahrene Skifahrer sich nach seinem Sohn umgesehen und eine Fräskante im Schnee übersehen haben. Beim Sturz schlug er so heftig mit dem Kopf auf, dass er, trotz Helm, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitt.

Sichtbare und unsichtbare Folgen

Wie es Michael Schumacher geht, nach seinem Unfall, weiß außer seinen Ärzten und seiner Familie niemand. Doch selbst wenn Patienten ein Schädel-Hirn-Trauma ohne schwere körperliche und geistige Behinderungen überwinden, spüren sie und ihre Familien die Folgen oft ein Leben lang.

So wie Ines Cenin. 18 Jahre ist es her, dass ihr Mann Ingo den Unfall hatte. Cenin war vorher schon eine eigenständige Frau, „aber heute fühle ich mich manchmal wie ein verheirateter Single“, sagt die 51-Jährige. Soziale Verpflichtungen nimmt sie meist allein wahr. Sie selbst spricht offen darüber, ihr Mann aber möchte nicht erkannt werden. Auch der richtige Name des Paares ist deshalb ein anderer.

Ingo Cenin, damals 39, wurde in der Kölner Innenstadt von einem Autofahrer geschnitten, als er mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit war. Er stürzte, der Fahrer fuhr weiter, Zeugen gab es nicht. Die Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma 3. Grades. Im Klartext: Risse im Schädel an vier Stellen, Hirnquetschung, Hirnödem, zahlreiche kleine Einblutungen. Es dauerte acht Tage, bis Cenin langsam, über 24 Stunden, erwachte.

Er erinnert sich an den ersten Gang ins Bad nach zehn weiteren Tagen: Aus dem Spiegel blickte ihn ein klapperdürrer Mann an, der Muskelschwund durch ein Koma ist enorm. „Ich dachte: Das bin ich nicht.“ Auch seine Frau fragte sich in dieser Zeit oft, wen sie da vor sich hatte. Etwa als ihr Mann, ein Nichtraucher, im Krankenhauspark eine Zigarette erbat und genüsslich inhalierte. „Er wirkte sonst völlig normal. Das war der absolute Horror“, sagt Ines Cenin.

Die Verwirrung legte sich. Sieben Monate nach den Unfall arbeitete Ingo Cenin wieder voll. Man könnte sagen: Die Cenins haben Glück gehabt.

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Insgesamt erleiden in Deutschland 270.000 Menschen pro Jahr eine Schädelhirnverletzung, meist durch Stürze oder Verkehrsunfälle. Knapp die Hälfte der Betroffenen ist jünger als 25 Jahre. 14.000 von ihnen, fünf Prozent, tragen ein schweres Schädel-Hirn-Trauma davon. Selbst ein leichtes Trauma kann noch Jahre später Denkvermögen und Bewusstsein stören. Knapp sechs Prozent der Betroffenen kommen nur noch teilweise oder gar nicht mehr in Schule, Ausbildung und Beruf zurecht.

Glück gehabt? Ingo Cenin wird beinahe ungehalten. Jemand hat sein Leben zerstört und ist einfach abgehauen, so sieht er es. Es strengt ihn an, sich zu konzentrieren, sein Hirn scheint nicht mehr in der Lage, Unwichtiges auszublenden. Spontan zu reagieren überfordert ihn. Anfangs schlug er vor Wut seinen Kopf gegen Türrahmen, wenn er wieder etwas vergessen hatte oder ihm die Worte fehlten. Ines Cenin litt vor allem darunter, dass er sich kaum noch in andere hineinversetzen konnte. Dass er, ohnehin ein Vernunftmensch, kaum noch Gefühle zu haben schien.

Folgen von Hirnschäden

Mit den Folgen von Hirnschäden auf Denken, Verhalten und Fühlen beschäftigen sich Neuropsychologen wie Monika Poplutz von der neurologischen Reha-Klinik Rehanova in Köln-Merheim. Sie begleitet Patienten ab der Aufwachphase auf der Intensivstation, über die Zeit in der Frührehabilitation. Die meisten verbringen zwischen sechs Wochen und drei Monaten auf einer solchen Station speziell für Menschen mit Hirnverletzungen, die noch nicht in eine klassische Reha-Klinik können. Während sie anfangs auf die Wiederherstellung von Fähigkeiten hinarbeiten, geht es irgendwann meist darum, Ausgleichsstrategien zu finden.

„Hirnverletzte müssen sich, auch wenn es ihnen schwer fällt, oft stärker konzentrieren, weil ihnen automatisierte Abläufe verloren gegangen sind“, sagt Poplutz. Ablenkung empfinden sie deshalb als extrem unangenehm, Planung wird für sie so wichtig, dass spontanes Reagieren kaum möglich ist. Durch die Dauer-Überforderung sind sie schnell gereizt, ihren Ärger zu kontrollieren, fällt ihnen schwer. Sie können sich weniger selbst einschätzen und sind zugleich selbstbezogener. Darunter leiden die Angehörigen, denen die undankbare Aufgabe zufällt, die fehlende Selbsteinschätzung zu korrigieren. Sie sind es auch, die über Monate und Jahre mit Kranken- und Rentenkasse kommunizieren, versuchen müssen, Kindern Halt zu bieten. Ihr Risiko, selbst psychosomatische Störungen, Ängste, Depressionen zu entwickeln, ist hoch.

Das fremde Ich

Wenn man mit Willy Wannebeyl spricht, fällt erst nach einer Weile auf, dass von der Vergangenheit des 55-Jährigen nur puzzleteilartige Stücke geblieben sind, sein Gedächtnis auch die Gegenwart nur lückenhaft speichert. Die Hochzeit, die Geburt des Sohnes? Weg. Die letzten Jahre als Verkaufsleiter mit einem Team von 20 Mitarbeitern? Verschwunden. „Man fühlt sich wie eine Hülle“, sagt Wannebeyl und kämpft mit den Tränen.

Seine Emotionen sind unmittelbarer geworden: Er, der früher nie aggressiv war, ging nach dem Unfall sofort zum Gegenangriff über, wenn er sich provoziert fühlte – und zwar handgreiflich, ob gegenüber seiner Frau oder Autofahrern, die ihn beim Spazierengehen zu dicht überholten. Heute hat sich Wannebeyl besser im Griff, aber im Grunde steht er hilflos vor sich selbst: „Ich selber habe die Veränderung gar nicht gemerkt.“ Manchmal wünscht er sich, dass es da einen Schmerz gäbe im Kopf. Aber da ist nichts.

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Wannebeyl hat drei Tage im künstlichen Koma gelegen nach dem Unfall. Als er nach drei Monaten nach Hause kam, konnte er bis auf seinen Namen und seinen Geburtsort wenig über sich sagen. Bis heute verfügt er nur über eine „eingeschränkte Alltagskompetenz“. Das bedeutet: Er braucht 24 Stunden am Tag jemanden an seiner Seite. Weil er selbst alltägliche Abläufe penibel planen muss und kleinste Störungen alles durcheinanderbringen. Von der Pflegekasse bekommt er 120 Euro im Monat zur freien Verfügung, dazu 100 Euro, die nur mit einem Pflegedienst abgerechnet werden dürfen. Das reicht für 15 Stunden Begleitung durch einen Pfleger pro Monat. Das Familieneinkommen kann Gisela Wannebeyl in dieser Zeit nicht erwirtschaften.

Fallen durchs Versorgungs-Raster

Hirnverletzte fallen durchs Versorgungs-Raster: Heime oder Tagespflegeeinrichtungen sind meist auf alte Menschen ausgerichtet. Auch in Behindertenwerkstätten passen Schädel-Hirn-Verletzte nicht richtig hinein. In Köln gibt es inzwischen spezialisierte Angebote in stationären Einrichtungen, eine Wohngruppe, eine Werkstatt bei den Alexianern in Rodenkirchen. Ambulante Hilfen oder Tagesförderangebote fehlen aber.

Wie es weitergehen soll? „Prognosen bekommt man höchstens für zwei oder drei Jahre, wie es dem Betroffenen dann geht, weiß niemand“, sagt Gisela Wannebeyl.

Prognosen würde auch Monika Poplutz nicht abgeben. „Die Patienten überraschen mich immer wieder. Das Gehirn bleibt das ganze Leben lernfähig, auch nach Kopfverletzungen.“

Ines Cenin zweifelt nicht an ihrer Beziehung. In manchen Momenten aber fühlt sie sich schrecklich allein – besonders dann, wenn wieder jemand sagt: Habt ihr Glück gehabt.

Glück gehabt? Das mag auch Gisela Wannebeyl nicht so sehen. Glück im Unglück, das vielleicht: „Immerhin gibt es wieder Momente, in denen wir eine ganz normale Familie sein können.

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