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Bulimie, AnorexieNach Jenke-Experiment – wie Magersüchtige wirklich leiden

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Dünn, dünner, am dünnsten. Wenn die Sucht nach dem Dünnsein gefährlich wird. (Symbolfoto)

Hungern schwächt den Körper, das ist das Fazit desneusten Jenke-Experiments auf RTL, das gestern ausgestrahlt wurde. Zehn Kilo nimmt Jenke von Wilmsdorff bei den Dreharbeiten zur Sendung ab. Was es wirklich bedeutet, magersüchtig zu sein, das erfährt der Zuschauer dabei allerdings nicht. Denn was er tut ist nur ein Hungern auf Zeit.

Wirklich Betroffene hungern nicht nur kurz, sie sind psychisch krank. Nicht selten geraten sie in Lebensgefahr. Das hat auch Autorin und Journalistin Sonja Vukovic, 31, erlebt, die über ihre dreizehn Jahre andauernde Essstörung ein eindrucksvolles biografisches Buch hat: Sonja Vukovic: „Gegessen. Wer schön sein will, muss leiden, sagt der Schmerz...“.

Frau Vukovic, Sie litten mehr als ein Jahrzehnt lang unter Anorexie und Bulimie. Wie sah ihr Leben in den schlechtesten Phasen aus?

Vukovic: Die schlechteste Phase war für mich – rückblickend – nicht, als ich mit 46 Kilogramm in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen und zwangsernährt wurde. Das war 2003. Es war auch nicht mein Leben in einer WG für essgestörte Mädchen, ganz im Gegenteil, das Leben in dieser Wohngemeinschaft hat mir womöglich das Leben gerettet.

Den Tiefpunkt hatte ich erreicht, als ich viele Jahre, nachdem ich die erste Therapie begonnen hatte, feststellte, dass ich meine Sucht immer noch nicht gelöst, sondern verlagert hatte. Da war ich süchtig nach der Liebe eines Mannes, der mir nicht gut tat. War abhängig bis zur Selbstaufgabe. Ich habe außerdem Drogen genommen, viel getrunken, allerlei Eskapaden gelebt. Alles in dem Glauben, endlich frei zu sein, mich auszutoben, wie man so sagt.

Wie sah die Wahrheit aus?

Ich befand mich in Wahrheit tief in einem Teufelskreis, in dem ich Bestätigung im Außen suchte und mich ständig betäubte; andauernd über meine eigenen Grenzen ging, weil ich mir selbst immer noch nicht nah sein konnte. In dem ich auf der Überholspur – auch beruflicher Erfolg hat mich berauscht – mich selbst zurückließ.

Und heute?

Heute muss ich auch sagen: Heilung ist ein Prozess, kein Event. Es dauert einfach viele Jahre, bis man eine Esstörung überwunden hat. Wenn Sie wissen wollen, wie wenig ich teilweise gegessen habe, dann war das über Jahre hinweg nicht mehr als 1000 Kalorien am Tag. Eine normale, ausgewachsene Frau braucht etwa 1800 bis 2000Kalorien täglich. Wenn es doch mehr als 1000 kcal wurden, habe ich mich nach dem Essen übergeben. Teilweise bis zu zehn Mal am Tag.

Und wie unterschied sich Ihr Leben in den guten Phasen?

In guten Phasen spürte ich mir selbst nach und hatte den Mut, mir die Probleme anzuschauen, die unter der Essstörung verborgen lagen: Wenig Selbstwertgefühl, mangelndes Urvertrauen, Trauma, die bei mir aus jahrelangem Mobbing und außerfamiliärem, sexuellem Missbrauch herrührte.

Ich habe mich jahrelang selbst dafür gehasst, dass mir mein Leben passiert war und habe mir nicht selbst vertraut. In guten Phasen konnte ich mir das eingestehen und erste Schritte machen, mir selbst etwas wert zu sein, mich selbst wertzuschätzen, auch wenn ich nichts Besonderes geleistet hatte. Mich nicht bloß dafür zu lieben, wie ich war. Sondern weil ich bin.

Stimmt es, dass Sie an Ihrer Magersucht fast gestorben sind, Frau Vukovic?

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Stimmt es, dass Sie an Ihrer Magersucht fast gestorben sind?

Zum einen war ich als Jugendliche erst eher etwas übergewichtig, wog 73 Kilo mit 13 Jahren. Später entdeckte ich für mich die Bulimie, habe mich also nach dem Essen übergeben. Nach und nach wurden die Lebensmittel, die ich mir selbst erlaubte, drin zu behalten, immer weniger. Und die Hungerphasen zwischen dem Kotzen immer länger. So rutschte ich in die Anorexie.

Mit 46 Kilogramm wurde ich 2003 in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen und zwangsernährt. Dort hatte ich eine Menge Auflagen, durfte nur, wenn ich ein bestimmtes Gewicht zugenommen hatte, das Gebäude verlassen, zunächst nur unter Aufsicht ins Bad. Das wurde damit begründet, dass man bei suizidalen Patienten besondere Vorsicht walten lasse. Ich habe mich empört: Aber ich bring mich doch nicht um. Und man antwortete mir: Was denkst du denn, was passiert, wenn man nicht isst?

Wonach haben Sie sich in diesen 13 Jahren gesehnt?

Kleidergrößen, Gewichts- und Kalorientabellen waren mit der Zeit ein Käfig für meine Gedanken geworden. Sehr viele Jahre lang hatte ich keinen inneren Raum für irgendetwas anderes – nicht für Filme, Musik oder Kunst. Nicht für Politik – ich las oft keine Zeitung mehr, obwohl ich ein politischer Mensch bin, ging kaum noch aus, weil ich mich in meinem Körper so unwohl fühlte, konnte viele soziale Dinge nicht tun, etwa mit Kollegen zu Mittag essen, mit Freunden shoppen, essen gehen.

Hosen kaufen und Hosen anziehen war mir der reinste Horror, denn ich hasste meine Beine. So sehr, dass ich mir abgewöhnt hatte sie zu fühlen, als Teil meiner selbst anzuerkennen. Sobald ich in eine Hose stieg, spürte ich sie aber - oft weinte ich, wenn die Hose sich anfühlte, als sei sie enger geworden. Ich konnte mich da rein steigern, wurde geradezu hysterisch und blieb dann völlig aufgelöst doch daheim. Meldete mich manchmal auch bei der Arbeit krank. Und ich habe mich so wahnsinnig danach gesehnt, aus diesem inneren Gefängnis auszubrechen.

Wie?

Ich wollte offen durch die Welt gehen, ich wollte wieder Raum haben dafür, einem guten Straßenmusikanten zuzuhören oder begeistert dem Wind dabei zuzusehen, wie er die Blätter der Bäume zum Tanzen bringt. Und ich habe immer gesagt: Eines Tages will ich ein ganz normaler Mensch mit ganz normalen Problemen sein, Stress mit dem DHL-Boten oder dem Chef zum Beispiel. Ärger mit dem Finanzamt oder dem Nachbarn.

Heute, wenn ich mich über Banales aufrege, denke ich manchmal daran zurück, bekomme Gänsehaut am ganzen Körper und freue mich wahnsinnig über meine jetzt kleinen Probleme.

Sie schreiben, die Gesellschaft huldige den Rausch, verachte aber Süchtige. Wie meinen Sie das?

Gerade findet das Oktoberfest statt, ein großes, kollektives Besäufnis. Ich lebe in Berlin, eine einzige Party. Werbung animiert zum Kaufrausch, Glück könne man kaufen, suggeriert mancher Spot. Wir wollen immer schneller, immer weiter, immer mehr. So sehr, dass man heute absurderweise sogar süchtig nach Gesundheit sein kann - wenn man sich zum Beispiel den Vegantrend und den Selbstoptimierungswahn ansieht.

Überall wird uns vorgekaukelt, dass wir uns besser fühlen, wenn wir uns besonders zügeln können. Oder besonders gehen lassen. Aber wehe, jemand verfällt der Illusion. Dann wird mit den Finger auf ihn oder sie gezeigt: Sie hat sich nicht im Griff. Oder: Er will es ja nicht anderes. Absurd, wie ich finde. Bigott.

Inwiefern ist Magersucht denn wirklich eine Sucht?

Eine Sucht ist per Definition eine Krankheit. Schauen Sie sich die internationale Verschlüsselung für Krankheiten an, sie heißt ICD-10. Sucht ist eine Erkrankung der Psyche, keine Entscheidung. Das ist leider ein Vorurteil, das noch weit verbreitet ist.

Wie lässt sich für einen Außenstehenden nachvollziehen, was Magersüchtige durchmachen?

Das ist eine große Frage. Fast bin ich geneigt, zu sagen: Gar nicht. Man kann es nicht nachvollziehen. Auch das aktuelle Jenke-Experiment stößt da an seine Grenzen, wo es um die Psyche geht. Natürlich kann man ausprobieren, was es mit einem macht, wenn man hungert oder frisst und kotzt. Aber das erleben ja auch Menschen, die zum Beispiel eine Kur machen. Oder aber im Kriegsgebieten Hunger leiden.

Magersucht und Bulimie sind psychische Erkrankungen, die so ein Experiment natürlich nicht so richtig abdecken kann. Dennoch finde ich es wichtig, dass es thematisiert wird. Dass mehr aufgeklärt wird, zum Beispiel darüber, wie man mit Betroffenen umgehen kann und sollte, vor allem, wenn es das eigene Kind ist.

Sie sind heute gesund. Wie haben Sie es raus aus der Sucht geschafft?

Ich musste ein ganzes Buch schreiben, um zu erzählen, wie und warum ich krank wurde und was mir geholfen hat, gesund zu werden. Es fällt mir ehrlich schwer, eine Zusammenfassung zu geben, denn es war ein wichtiges Zusammenspiel aus den für mich richtigen Therapeuten, den für mich richtigen Wegbegleitern, der für mich richtigen Literatur, und meinem unbedingten Willen. Würde nur eine Komponenten fehlen, weiß ich nicht, ob ich es geschafft hätte. Ich freue mich über jeden, der mein Buch  "Gegessen" liest.

Heute sind Sie Mutter. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich möchte gerne noch mehr Kinder. Und ich möchte noch mehr Bücher schreiben. Kinder und gute Bücher sind wichtige, wunderschöne Dinge in dieser Welt.

Sonja Vukovic: „Gegessen. Wer schön sein will, muss leiden, sagt der Schmerz...“, Lübbe.

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