Hirnforscher Wolf Singer im Interview„Meditieren verändert das Gehirn“

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Köln – Professor Singer, Sie haben mit einem Mönch, dem Bestseller-Autor Matthieu Ricard, ein Buch über Meditation geschrieben. Meditieren Sie selbst auch?

Ich habe einmal an einer zehntägigen Zen-Übung teilgenommen. Ein hartes Regime: Schweigen, kein Blickkontakt, Sitzen vor der Wand, konzentriert auf die Haltung, die Atmung, den gegenwärtigen Moment. Es war eindrucksvoll.

Und hat es einen Effekt gehabt?

Ja, ich habe Zustände der inneren Ruhe erfahren, die ich auch jetzt noch, obgleich ich nicht mehr regelmäßig übe, aufsuchen kann, weil ich sie als Möglichkeit kennengelernt habe. Meine Abneigung gegen Multitasking hatte ebenfalls zugenommen, dieser Effekt war jedoch nicht von Dauer.

Was interessiert Sie als Hirnforscher an der Meditation?

Es war die Begegnung mit Matthieu Ricard. Mich interessierte, ob sich die Erkenntnisse, die Meditierende aus der 1.-Person-Perspektive gewinnen mit denen übereinstimmen, die Hirnforscher aus der der 3.-Person-Perspektive, also durch Experimente und Messungen, zutage fördern.

Also aus der Ich-Perspektive und der Er-/Sie-/Es-Perspektive. Wo hilft die Meditation?

In der Meditation stellen sich Bewusstseinszustände ein, die sich von den alltäglichen mitunter deutlich unterscheiden. Auch ganz gewöhnliche Hirnfunktionen können sich dabei verändern. Bei mir hat sich zum Beispiel der Rhythmus verlangsamt, mit dem sich die beiden Augen abwechseln. Normalerweise werden unbemerkt im Wechsel von Sekundenbruchteilen Signale unterdrückt, die nicht zu einem Bild verschmolzen werden können. In der Meditation vollzog sich dieser Wechsel so langsam, dass ich die Veränderungen in meinem Gesichtsfeld verfolgen konnte

Verändert sich das Gehirn?

Es gibt also Veränderungen im Gehirn beim Meditieren?

Während der Meditation ist natürlich der Aktivitätszustand des Gehirns verändert, aber wenn Menschen häufig meditieren, kommt es auch zu bleibenden Veränderungen. Diese Veränderungen beruhen auf prozeduralem Lernen, nehmen Zeit in Anspruch und ähneln jenen, die sich auch beim Erlernen anderer Fertigkeiten einstellen, etwa beim jonglieren Lernen. Es bedarf der Übung. Die zugrunde liegenden Mechanismen unterscheiden sich von denen, die ins Spiel kommen, wenn wir uns an einmalige Ereignisse erinnern, etwa daran, dass wir uns an einer Herdplatte verbrannt haben. Die meditationsbedingten Veränderungen im Gehirn stellen sich erst nach Monaten ein. Ungewöhnlich ist das nicht, das Gehirn verändert sich immer, wenn es etwas Neues lernt.

Das Meditieren gilt ja als Hinwendung ins Innere, während das Einüben motorischer Fertigkeiten Wechselwirkungen mit der Außenwelt voraussetzt. Sind beide Vorgänge dennoch ähnlich?

Was die Mechanismen anlangt, ja, aber es werden andere Hirnfunktionen und damit andere Hirnregionen trainiert. Das Training motorischer Handlungen verändert motorische Hirnrindenfelder. Wenn man meditiert, benötigt man sehr viel Aufmerksamkeit, man muss sie lenken lernen. Entsprechend werden Hirnrindenregionen trainiert, die sich mit der Kontrolle von Aufmerksamkeit befassen, und das führt zu messbaren Veränderungen.

Es geht ja darum, beim Meditieren ein Glücksgefühl zu erzeugen. Im Buch wird das mit dem Heureka-Effekt verglichen, der sich einstellt, wenn man etwas entdeckt hat oder wenn man ein Problem gelöst hat – wie Archimedes in der Antike.

Es ist dies lediglich eine Vermutung. Ohne den Heureka-Effekt wüssten wir nicht, wann wir etwa bei einer Rätsellösung Erfolg gehabt haben: Das Gehirn muss erkennen können, wenn es eine Lösung gefunden hat, wenn sein Zustand stimmig und frei von Widersprüchen ist. Es muss unterscheiden können, ob die jeweiligen Aktivitätszustände der Nervennetze noch der Suche nach einem Ergebnis gelten oder bereits der Lösung entsprechen – eine notwendige Voraussetzung für Lernprozesse. Worin sich diese Zustände unterscheiden, wissen wir noch nicht. Meine Vermutung ist, dass sich bei tiefer Meditation Zustände einstellen, die als stimmig gewertet werden und deshalb angenehm sind – ähnlich dem Heureka.

Können Sie den Heureka-Effekt als Wissenschaftler messen?

Im Prinzip ja, aber hier ist die Forschung im Fluss.

Aufmerksamer durch Meditation

Bleiben wir bei der Wirksamkeit von Meditationen. Es heißt, dass durch Meditationen Aufmerksamkeitslücken, im Englischen „attentional blink“ genannt, geschlossen werden können.

In einer raschen Folge von Bildsequenzen übersieht man nach dem Erkennen eines der Bilder in der Regel einige der nachfolgenden, weil das Gehirn noch mit der Bearbeitung des erkannten Bildes beschäftigt ist. Dieses Phänomen heißt „attentional blink“. Die Dauer solcher Aufmerksamkeitslücken nimmt mit dem Alter zu und damit die Zahl der „übersehenen“ Bilder. Durch intensive Meditation lässt sich diese Verlangsamung aufhalten.

Wird bei meditierenden Menschen im Gehirn auch eine Synapsenneubildung festgestellt?

Die Dicke der Großhirnrinde nimmt bei intensiver Übung in bestimmten Regionen zu und das beruht vermutlich darauf, dass sich die Kontakte zwischen den Nervenzellen verändern. Sie können in ihrer Wertigkeit zu-, aber auch abnehmen. Bei Lernprozessen scheint die Effizienzzunahme zu überwiegen. Da diese mit einer strukturellen Vergrößerung der Synapsen-Kontakte einhergeht, nimmt das Volumen der Großhirnrinde in den benutzten Regionen geringfügig zu. Dies geschieht auch beim ganz alltäglichen Lernen. Im Schlaf werden dann eventuell aufgetretene Ungleichgewichte ausgeglichen, um das Gehirnvolumen konstant zu halten.

Also sollten Schüler besser vor dem Schlafengehen lernen?

Wir kennen das alle noch von den Vokabeln, die wir abends geübt haben. Das Gehirn speichert das unmittelbar vor dem Schlafen Gelernte besonders gut, so dass es dann am Morgen abgerufen werden kann.

Vorteil durch das Meditieren

Hat der Meditierende einen Vorteil anderen gegenüber?

Er trainiert unter anderem seine Aufmerksamkeitsmechanismen und ist dadurch in Aufgaben, die eine hohe Aufmerksamkeit verlangen besser als jemand, der das nicht trainiert hat. Meditierende üben auch, nicht von Emotionen überwältigt zu werden, und leiden deshalb mitunter weniger unter den Unbilden des Alltags

Ein wichtiger Teil ist die Überwindung des Ich in der Meditation. Welche Position hat der Hirnforscher zu dem, was wir Ich nennen?

Ein Ort, an dem das Ich seinen Sitz hat, findet sich im Gehirn nicht. Ich neige eher dazu, dies als gesellschaftliche Zuschreibungen zu sehen, wie es auch im Fall von der Frage des freien Willens der Fall ist.

Sie haben Zweifel an unserem Ich …

Keineswegs, nur seine Verortung ist schwierig. Menschen wachsen in einem kulturellen Umfeld auf, das ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Dazu zählen Intentionalität, Autonomie, der Wille und schließlich auch all das, was wir mit den Worten „ich“ oder „selbst“ verbinden. Wir werden als verantwortliche, freie Wesen gesehen und empfinden uns als von allen anderen und der umgebenden Welt abgegrenzte Individuen. Wir integrieren diese Zuschreibungen und Erfahrungen in unser Selbstmodell, sie werden Teil unseres Selbstverständnisses. Aus diesem Grund unterscheiden sich die Selbstmodelle von Menschen, die durch unterschiedliche Kulturen geprägt wurden.

In westlichen Kulturen sprechen wir von einem starken Ich, wenn es ein hohes Maß an Autonomie aufweist, wenig auf Anerkennung von außen angewiesen und dadurch wenig verführbar ist durch populistische Angebote, sich durch Gruppenzugehörigkeit zu bestätigen. Östliche Kulturen favorisieren eher eine Dekonstruktion des Ich. Das Individuum soll sich begreifen als ein Rädchen in einem großen Getriebe. Ich vermute, dass mit dem zu dekonstruierenden Ich jene Komponente des Selbst gemeint ist, die wir als übertrieben narzisstisch und selbstbezogen bezeichnen würden. Es ist etwas anderes als das starke autonome Ich, das wir gerne fördern wollen.

Wie funktioniert dann das Bewusstsein?

Das Bewusstsein hat viele unterschiedliche Konnotationen, weshalb es außerordentlich schwierig ist zu definieren, was unter Bewusstsein zu verstehen ist. Eine Möglichkeit besteht darin, es einem Gehirnzustand zuzuordnen, der es erlaubt, Reize bewusst zu verarbeiten, sich Erinnerungen bewusst zu machen; und für Menschen gälte, diese Inhalte sprachlich fassen zu können. Bewusst Erlebtes lässt sich im Kurzzeitspeicher ablegen und willentlich wieder abrufen.

Vieles von dem was ständig auf uns einströmt wird jedoch nicht mit Aufmerksamkeit belegt und gelangt dann nicht zur bewussten Verarbeitung. Es kann trotzdem verarbeitet werden und unser Verhalten bestimmen, aber wir sind uns dann nicht gewahr, dass wir etwas gesehen oder getan haben. Viel schwieriger ist die Frage, wie aus den materiellen neuronalen Prozessen die immateriellen Qualitäten der bewussten Inhalte hervorgehen, unsere Gefühle, Wahrnehmungen und unser Wille.

Gibt es den freien Willen?

Das ist ein verwandtes Problem. Um völlig frei und unabhängig von vorangehenden Hirnprozessen entscheiden zu können bedürfte es eines „Entscheiders“ der nicht an neuronale Prozesse gebunden ist und von „außen“ auf die Hirntätigkeiten einwirkt, damit diese ausführen, was der Entscheider wollte. Sollte dies der Fall sein, wären alle gegenwärtigen Erklärungsmodelle der Naturwissenschaften falsch.

Also keine Wahlmöglichkeit.

Das Gehirn ist ein sehr komplexes nichtlineares System, das sehr viele verschiedene Zustände annehmen kann. Die Abfolge dieser Zustände wird durch die Naturgesetze festgelegt, denen die Wechselwirkungen zwischen Nervenzellen gehorchen. Ein bestimmter Zustand wird durch den unmittelbar vorausgehenden und all die Einflüsse bestimmt, die in diesem Moment auf das Gehirn einwirken. Das heißt, im Augenblick einer Entscheidung – und diese entspricht einem bestimmten Zustand – ist die getroffene die jeweils wahrscheinlichste und damit einzig mögliche. Wären die Vorbedingungen anders gewesen, hätte sich ein anderer Zustand eingestellt, es wäre eine andere Entscheidung getroffen worden. Das bedeutet aber nicht, dass voraussagbar und von vorne herein festgelegt ist, wie die nächste Entscheidung ausfallen wird. Diese Unbestimmtheit ist eine charakteristische Eigenschaft nichtlinearer dynamischer Systeme.

Auf Grund dieser Unvoraussagbarkeit, die uns die Beobachtung des Gegenüber lehrt, gehen wir davon aus, dass dieser seine Entscheidungen aus freien Stücken gewählt hat – und dieses Konzept wird uns von Kindheit an vermittelt. Wir machen die Zuschreibung, frei entscheiden zu können, zum festen Bestandteil unseres Selbstmodells und erleben dabei keine Widersprüche, weil wir die Verarbeitungsprozesse in unserem Gehirn nicht spüren. Wir erfahren nur die Ergebnisse. Erst die neurobiologische Forschung zeigt uns, dass es in unserem Gehirn anders zugeht, als es uns scheint.

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