PsychologieWenn das Spiegelbild fremd aussieht

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In einer Studie unter Schülern gaben 47 Prozent an, Depersonalisations-Symptome zu kennen.

In einer Studie unter Schülern gaben 47 Prozent an, Depersonalisations-Symptome zu kennen.

Herr Michal, Sie forschen über die Störung Depersonalisation – das Gefühl, permanent neben sich zu stehen. Welche Symptome verbergen sich dahinter?

Die Betroffenen klagen über das Gefühl, nicht richtig da, von allem abgetrennt zu sein. Sie erleben ihre Umwelt unwirklich, empfinden sich wie ein Roboter. Das eigene Spiegelbild fühlt sich fremd an, die eigene Stimme klingt unvertraut und wie weit entfernt. Manche beschreiben es als „Truman Show“-Gefühl – als ob alle anderen Schauspieler wären.

Sich selbst nicht im Spiegel zu erkennen klingt für mich eher nach einem Vampir-Film. Anders als Vampire sehen sich die Betroffenen im Spiegel, es fühlt sich nur fremd an. Daneben gibt es auch einige körperliche Symptome: Manche berichten, sie könnten nur noch zweidimensional sehen oder würden alles wie durch dickes Glas wahrnehmen. Deswegen war ein Großteil unserer Patienten auch schon beim Augenarzt. Viele denken zuerst gar nicht an eine emotionale Ursache.

Das Gefühl, neben sich zu stehen, hat sicher jeder schon mal gehabt. Wann wird das zur Krankheit?

Die Redensart vom „Neben-Sich-Stehen“ macht das deutlich: Das ist ein allgemeinmenschliches Gefühl, das auch bei eigentlich Gesunden etwa durch Übermüdung oder Stress ausgelöst werden kann. Zur Krankheit werden solche Symptome erst, wenn sie dauerhaft anhalten, man darunter leidet und im Alltag beeinträchtigt ist.

Worunter leiden Betroffene denn am meisten?

Zunächst mal machen ihnen die Symptome Angst. Sie fürchten, die Kontrolle über sich zu verlieren, „verrückt“ zu werden oder sich komisch zu benehmen. Dabei wirken diese Menschen auf andere oft geradezu cool. Aber innerlich macht ihnen diese Coolness Angst.

Ja. Viele sind verzweifelt, weil sie es aus eigener Kraft nicht schaffen, präsenter zu werden. Letztlich ist das oft die Verzweiflung darüber, das Leben zu verpassen, und ein Gefühl tiefer innerer Verlorenheit.

Sie haben in Rheinland-Pfalz knapp 4000 Schüler zu psychischen Belastungen befragt. Zwölf Prozent berichteten, sie seien durch Symptome von Depersonalisation stark belastet.

In der Studie gaben sogar 47 Prozent der befragten Schüler an, zumindest an einzelnen Tagen in den vergangenen zwei Wochen solche Symptome gehabt zu haben. Zwölf Prozent erklärten, sie seien davon stark belastet gewesen. In der erwachsenen Allgemeinbevölkerung ist das nur bei ein bis zwei Prozent der Menschen der Fall.

Warum sind solche Gefühle vor allem unter Jugendlichen verbreitet?

Wichtig ist, dass diese Symptome nicht bei allen einen Krankheitswert haben. Dass sie gerade in der Pubertät häufig sind, liegt daran, dass sich in dieser Zeit sehr viel verändert: Man löst sich vom Elternhaus, nimmt Kontakte mit anderen auf, muss neuen sozialen Anforderungen genügen. Alles Dinge, die Angst auslösen.

Und diese Ängste führen dazu, dass man neben sich steht?

Es ist der Umgang damit, der anfällig für eine Depersonalisation macht. Wir wissen, dass Menschen mit Depersonalisation oft unter einer relativ großen Selbstunsicherheit – also der Angst vor den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen – leiden. Weil sie gleichzeitig auch Angst vor Ablehnung haben, trauen sie sich aber auch nicht, sich anderen gegenüber zu öffnen.

Ein Dilemma.

Genau. Und aus dieser Not heraus trennt man sich vom eigenen Empfinden ab.

Gibt es eine genetische Veranlagung für die Störung?

Dazu wurde sehr wenig erforscht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Patienten eine genetische Disposition dazu haben, etwas sensibler und gleichzeitig ängstlicher zu sein. Damit sind sie eigentlich besonders auf andere Menschen angewiesen, die ihnen Sicherheit geben. Wenn das nicht passiert – etwa weil die Eltern emotional nicht ausreichend verfügbar waren –, entwickelt man ein höheres Risiko für die Erkrankung.

Gibt es auch soziale Gründe?

Es ist bekannt, dass Depersonalisation in individualistischen Gesellschaften wie der unseren viel häufiger vorkommt als in kollektivistischen wie in Lateinamerika. Man erklärt das so, dass in individualistischen Gesellschaften der Einzelne weit mehr tun muss, um soziale Kontakte zu knüpfen, um Geborgenheit zu erleben.

Es heißt, dass auch Cannabis-Konsum ein Auslöser sein kann...

Bei der Cannabis-Vergiftung können typische Symptome ein bis zwei Tage lang bestehen. Leidet jemand aber dauerhaft darunter, kann das nicht mehr allein durch Cannabis erklärt werden.

Wie lässt sich eine Depersonalisation therapieren?

Es gibt kaum Studien dazu. Man weiß aber: Antidepressiva haben darauf in der Regel keinen Effekt – ganz anders als etwa auf Symptome einer Angststörung. Nach Expertenmeinung ist die Therapie der Wahl Psychotherapie

... die im Schnitt wie lange dauert?

Das hängt von der Komplexität der Probleme ab. Hinter den Symptomen verbergen sich oft erhebliche emotionale Probleme, deshalb muss man sich häufig auf eine lange Psychotherapie einstellen.

Wie stehen die Chancen, die Störung irgendwann loszuwerden?

Man kann auch noch nach Jahrzehnten einen chronischen Depersonalisations-Zustand überwinden. Man kann sich wieder lebendig und spontan fühlen. Um aber konkrete Zahlen nennen zu können, bräuchte es Studien.

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