SepsisBlutvergiftung wird oft unterschätzt

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Lag wegen der Blutvergiftung lange im Koma: Klaus Braun, hier mit seinem Sohn.

Lag wegen der Blutvergiftung lange im Koma: Klaus Braun, hier mit seinem Sohn.

Am Ende geht alles ganz schnell. Zusammenbruch, Notarzt, Intensivstation. Als Klaus Braun in einem Krankenhausbett aus der Bewusstlosigkeit erwacht, blickt er in fünf Gesichter mit Mundschutz. "Die Ärzte sahen ernst aus und legten mir gerade hektisch Zugänge", erinnert sich der 45-Jährige an diesen Moment im April 2011. Heute feiert er den Tag, an dem kundige Ärzte im Kreiskrankenhaus Gummersbach bei ihm eine Blutvergiftung diagnostizierten, als den seiner Wiedergeburt. Und das, obwohl er damals beinahe schon kurz nach dem Frühstück gestorben wäre.

Blutvergiftung, von Medizinern Sepsis genannt, ist eine Killer-Krankheit. Zugleich wird sie gnadenlos unterschätzt. Wer weiß schon, dass Sepsis nach Krebs und Herzinfarkt die dritthäufigste Todesursache in Deutschland ist? Eine zweifelhafte Ehre, die zeigt, wie effektiv die Angriffe der Krankheit sind: Jedes Jahr bekommen hierzulande 150 000 Menschen eine Blutvergiftung, 60 000 sterben - eine Quote von 40 Prozent. Einen Herzinfarkt überstehen dagegen 95 Prozent der Patienten.

Bei einer Sepsis wird dem Patienten die eigene Abwehr zum Verhängnis

Sepsis? Das Wort hatte Klaus Braun vor jenem Frühlingstag nie gehört. "Bei Blutvergiftung dachte ich immer an den roten Strich, der von einer Wunde langsam zum Herzen wandert", sagt der Tischler aus dem oberbergischen Wiehl. Einen roten Streifen auf der Haut halten viele für das Warnzeichen einer Sepsis. "Blutvergiftung!" ruft der kleine Michel aus Lönneberga in der gleichnamigen Verfilmung der Astrid Lindgren-Erzählung, als sich am Arm von Knecht Alfred ein roter Strich abzeichnet. In Wahrheit zeigt ein solcher Streifen nur eine lokale Entzündung der Lymphbahnen an. Die kann zwar zur Sepsis führen, aber das kann auch eine Schramme am Knie oder ein eitriger Zahn - so wie alle Stellen, durch die Keime in den Körper gelangen können. Dabei ist der Angriff eines Erregers selbst nicht das Problem. Bei einer Sepsis wird dem Patienten vielmehr die eigene Abwehr zum Verhängnis: Ist sie geschwächt, etwa durch verschleppte Krankheiten, kann sie die Attacke von außen nicht recht parieren. Es kommt zu einer Überreaktion des Immunsystems, die schließlich den ganzen Organismus gefährdet.

1. Keime, die normalerweise in einer lokalen Wunde von Immunzellen in Schach gehalten werden, können bei einem geschwächten Menschen in die Blutbahn gelangen.

2. Daraufhin aktiviert das Immunsystem hektisch Abwehrzellen, um die Eindringlinge zu bekämpfen.

3. Die Abwehrzellen schütten Botenstoffe aus, die in der Masse nicht nur die Erreger, sondern auch Blutgefäße schädigen können. Zudem steigt die Zahl der Abwehrzellen, kleine Blutgefäße drohen zu verstopfen.

4. Abwehrzellen lagern sich an der Gefäßwand an und setzten aggressive Enzyme frei, die überall im Körper kleine Löcher in die Blutgefäße reißen.

5. Dadurch kann Blutplasma in großen Mengen durch, die Gefäßwand dringen, die Flüssigkeit sammelt sich im Gewebe an.

6. Die Blutgerinnung spielt verrückt, der Blutdruck stürzt ab. Ein lebenswichtiges Organ nach dem anderen fällt aus (Multi-Organ-Versagen). Der Mensch stirbt.

Klaus Braun hatte sich schon tagelang unwohl gefühlt. Sein dreijähriger Sohn hatte am Wochenende zuvor Fieber bekommen. Als es nicht nachließ, fuhren seine Partnerin und er den Kleinen in die Klinik. "Er bekam ein Antibiotikum und wir konnten ihn wieder mitnehmen", erinnert sich Braun. In den Tagen darauf erholte sich der Sohn wieder. Dafür ging es dem Vater immer schlechter.

"Ab Dienstag hatte ich das Gefühl: Da ist was im Anmarsch", sagt Braun. Am Mittwoch besucht er eine Gymnastikgruppe. Als er am Ende der Übungseinheit aus dem Schneidersitz aufsteht, spürt er einen heftigen Schmerz im Oberschenkel. "Ich dachte: Vielleicht eine Zerrung? Zuhause war dann wieder alles normal." Am Donnerstag fühlt er sich schon beim Aufwachen schwach. Als er später in den ersten Stock seines Fachwerkhäuschens hinaufsteigt, muss er sich alle paar Stufen ausruhen. Ein Infekt? Braun beschließt, noch eine Nacht zu schlafen, bevor er zum Arzt geht. Ein gefährlicher Entschluss.

"Bei der Sepsis steigt mit jeder Stunde das Sterberisiko um drei Prozent", sagt Frank Brunkhorst. Der Professor für Klinische Sepsisforschung an der Universität Jena hat gerade untersucht, mit welchen Medikamenten Patienten mit septischem Schock - der schwersten Stufe der Blutvergiftung - am besten zu behandeln sind. Die Pionierstudie, vor ein paar Wochen in einem US-Fachjournal veröffentlicht, erregte weltweites Aufsehen. Brunkhorst und sein Team fanden heraus, dass bei diesen schwerstkranken Patienten eine Therapie mit einem einfachen, aber hochwirksamen Antibiotikum besser anschlägt als eine Kombination mehrerer Präparate. Ein neues Mosaiksteinchen in einem Behandlungsfeld, in dem kleinste Therapieänderungen über Tod und Leben entscheiden können.

Wörtlich übersetzt bedeutet das griechische Wort Sepsis "faul machen"

Wie sich ein septischer Schock anfühlt, weiß Klaus Braun am Freitagmorgen. Beim Frühstück ist er so schlapp, dass er kaum das Marmeladenglas heben kann. Trotzdem bringt er seinen Sohn in den Kindergarten. Auf dem Rückweg bricht er fast zusammen. "Ich dachte: Jetzt setzt du dich auf die Parkbank und machst einfach ein Nickerchen." Wörtlich übersetzt bedeutet das griechische Wort Sepsis "faul machen". Mit letzter Kraft schleppt sich der Kranke zurück zum Haus. Erst am Nachmittag entscheiden seine Frau und er, den Notarzt zu rufen. Später werden die Ärzte ihm sagen: Hätte er eine Stunde länger gewartet, er wäre zu Hause verstorben.

In der Notaufnahme wird Klaus Braun ohnmächtig. Was Sepsis-Patienten in diesem Stadium der Krankheit so gnadenlos ausknockt, ist der Angriff der eigenen Abwehrkräfte. Die sind - vor allem bei älteren Menschen oder nach Operationen - oft chronisch geschwächt. Dass die Zahl der Blutvergiftungen seit Jahren zunimmt, sehen Mediziner wie Frank Brunkhorst deshalb auch als Nebenwirkung der modernen Hochleistungsmedizin. "Wir behandeln immer ältere Menschen immer erfolgreicher - aber wir muten das Patienten zu, die schon eine Menge an Vorerkrankungen haben", erklärt er. Kommen solche Patienten dann mit Keimen in Kontakt, ist ihre Abwehr schnell überfordert. Doch eine Blutvergiftung erleiden längst nicht nur alte Menschen. "Auch junge Gesunde kann sie treffen", sagt Brunkhorst. Schließlich könne auch eine Mandelentzündung septisch verlaufen. Kein Wunder, dass die Krankheit immer wieder jüngere Todesopfer fordert, wie etwa den Schauspieler Guillaume Depardieu (37).

Das Immunsystem aktiviert Abwehrzellen, die den eigenen Körper angreifen

Ob jung oder alt: Die Dramaturgie einer Sepsis ist immer dieselbe. Sobald Keime in die Blutbahn geraten, schlägt der Körper Großalarm. In einer Art Generalmobilmachung aktiviert das Immunsystem immer mehr Abwehrzellen, die den eigenen Körper angreifen. Enzyme schlagen Löcher in die Gefäßwände, durch die Flüssigkeit ins Gewebe sickert. Immer weniger Blut kommt bei den Organen an, die eins nach dem anderen den Dienst versagen. Ein solches "Multi-Organ-Versagen" ist ein fast sicheres Todesurteil. An die dreieinhalb Wochen im Koma, als sein Körper auf der Intensivstation gegen sich selbst kämpft, erinnert sich Klaus Braun gar nicht. Dafür an die Alpträume, die ihn in der Aufwachphase plagen. Mehr als drei Monate lang liegt er in der Klinik. Sein Oberschenkel wird mehrfach operiert, weil sich die Erreger hier hin ausgebreitet haben. Er muss neu laufen lernen. Als Tischler wird er wohl nie wieder arbeiten können.

Wie die Keime damals in seinen Körper gelangten, weiß der Familienvater bis heute nicht. Die Ärzte fanden in seinem Körper Legionellen und Scharlach-Erreger - letzteres war die Krankheit, mit der sich sein Sohn kurz zuvor infiziert hatte. Geblieben sind Braun schmerzende Stellen an den Beinen, außerdem ist er schnell erschöpft. Die Massen an Antibiotika haben seinen Geschmackssinn ruiniert. "Freunde sagen im Scherz, ich solle die Klinik verklagen, weil mir das Bier nicht mehr schmeckt", sagt er. In Wahrheit ist er den Ärzten unendlich dankbar. Nicht immer erkennen Mediziner eine Blutvergiftung so schnell.

Am 8. April hat er mit seiner Frau mit einem Glas Sekt angestoßen. Es ist der Jahrestag der Einlieferung in die Klinik. Ob er damals nicht früher hätte zum Arzt gehen sollen? "Ich bin kein wehleidiger Typ. Gehen Sie sofort zum Arzt, wenn Sie Fieber haben?" Heute wüsste er es besser. Er klingt dabei wie ein Veteran, der einen Krieg überlebt hat.

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