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Gemischtwarenladen in FlamersheimBei Käthe Steinwarz gibt es (fast) alles

Lesezeit 6 Minuten
Auch mit 82 Jahren steht Käthe Steinwarz noch jeden Tag hinter der Ladentheke ihres Geschäfts an der Horchheimer Straße.

Auch mit 82 Jahren steht Käthe Steinwarz noch jeden Tag hinter der Ladentheke ihres Geschäfts an der Horchheimer Straße.

Euskirchen-Flamersheim – Das Schaufenster lädt Schatzsucher zum Stöbern ein: Spielzeug, Haushaltsgegenstände, Bücher, Einrichtungskram, sortiert nach einer nicht nachvollziehbaren Ordnung. Den Namen der Metal-Band, die auf einem Zettel ihre neueste CD anpreist, hat die Sonne längst weggeblichen. Wer den Laden von Käthe Steinwarz in Flamersheim betritt, wird von dem Angebot fast erschlagen. Rechts neben der Eingangstür stehen zwei Einkaufswagen mit Second-Hand-Büchern – jedes Buch 50 Cent. Auf einem Tisch stapeln sich Karnevalsartikel aus den 1980er-Jahren: Clown-Nasen aus rotem Hartplastik, freche Brillen, aus Draht zurechtgebogen.

Die Tür fällt klingelnd zu, und eine alte Dame kommt gemächlich aus dem hinteren Bereich des Ladens herein. „Kann ich etwas für Sie tun?“, fragt sie mit etwas müder Stimme. Doch der Schein trügt. Käthe Steinwarz, 82, ist durch und durch Geschäftsfrau mit wachem Verstand und großartigem Gedächtnis.

Geboren 1934 in „der Hand“, einem Stadtteil von Bergisch Gladbach, zog sie mit ihren Eltern schon als Kleinkind nach Euskirchen, da ihr Vater einen Job bei Reuter-Latz in Euskirchen bekam. In der Kreisstadt besuchte sie die alte Grundschule mitten in der Stadt. Heute steht dort die Galleria. Lieblingsfach: Mathe. Nach einem halben Jahr auf der Marienschule („Mein Religionslehrer war Kaplan Kellermann“) wird die Wohnung der Familie am Keltenring ausgebombt. „Ich habe schon in jedem Keller an der Kölner Straße gesessen, wenn auf dem Schulweg mal wieder der Bombenalarm losging.“ Die Familie flüchtete zu den Großeltern nach Bergisch Gladbach, kurze Zeit später wurde Käthe, damals elf Jahre alt, mit ihren beiden ein Jahr älteren Geschwistern nach Eger in Tschechien kinderlandverschickt. Das war am 4. Januar 1945. Auf dem Weg wurde der Zug viermal angegriffen, erzählt sie.

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„Ich möchte zo Foß nach Kölle jon“

Nach dem Ende des Krieges schlug sich die Familie zurück ins Rheinland durch, mit viel Glück und noch mehr Durchhaltevermögen: per pedes. „Ich möchte zo Foß nach Kölle jon“, einmal quer durch Deutschland, zurück nach Euskirchen. Nach einem kurzen Aufenthalt in einer Flüchtlingsunterkunft an der Kommerner Straße wurden Mutter und Kinder in die Villa Fürstenberg in Flamersheim zwangseingewiesen.

Glücklicherweise kam der Vater zurück und brachte Ordnung in das Leben der Familie. Die Töchter gingen wieder auf die Marienschule, wo sich Käthe sowohl in Sprachen als auch in Naturwissenschaften als sehr gute Schülerin erwies. Den Schulweg von Flamersheim nach Euskirchen legten die Kinder damals zu Fuß zurück, bis privat ein Pferdetransport organisiert wurde. „Das würde heute gar nicht mehr gehen“, schmunzelt Steinwarz: „Heute muss ja alles bis aufs Äußerste abgeklärt sein. Wir haben einfach gemacht. Das musste so sein, sonst wäre ja kein Stein mehr auf den anderen gekommen. Wenn die bürokratischen Vorschriften von heute damals schon bestanden hätten, dann läge Deutschland noch in Schutt und Asche.“ Steinwarz erzählt von dieser Zeit, die offensichtlich einen großen Einfluss auf ihr Leben hatte, während sie in ihrem kleinen Büro hinter dem Geschäft sitzt. Alles ist aus Holz und sehr praktisch, die Wand ist mit Klebezetteln und Telefonnummern tapeziert, und es riecht nach frisch gespitzten Bleistiften.

Höhere Handelsschule in Köln

Nach dem Abschluss an der Marienschule zog die junge Käthe zu den Großeltern nach Bergisch Gladbach und besuchte die höhere Handelsschule in der Lindenstraße in Köln. In der Großstadt wäre sie nach dem Abschluss auch gerne geblieben, doch der Vater bestand darauf, dass die junge Frau zurück in die Heimat zog.

Deswegen machte sie zusätzlich eine Ausbildung zur Industriekauffrau bei Ruhr-Lückerath in Euskirchen. Dass das alles andere als herausfordernd werden würde, war ihr schon vorher klar: „Ich setzte durch, dass ich 100 Mark statt 68 als Lehrgeld bekam und die Lehre nach zwei statt dreieinhalb Jahren beendete“, grinst sie. Der einen oder anderen Mitarbeiterin war die toughe junge Frau ein Dorn im Auge – sie wurde als impertinent, als schwierig und aufsässig angeschwärzt, erinnert sie sich.

Nach der Lehre bewarb sie sich heimlich als Au-pair-Mädchen in London – und wurde genommen. Die Eltern fielen aus allen Wolken. Doch Käthe packte ihren Koffer und zog am 1. Juli 1959 los, um sich ein halbes Jahr um die kleine Susan Violett Young zu kümmern und ihr Englisch aufzubessern.

Bewerbung bei der Katholischen Kirche

Wieder zurück in Köln, bewarb sie sich bei der Katholischen Kirche und wurde von einem gewissen Karl Osner eingestellt, der damals im Alleingang eine kleine Einrichtung namens „Misereor“ aufbaute. Wie bei einem heutigen Start up war Steinwarz erst mal für alles zuständig: Sekretariat und Buchhaltung, und sie gab Französisch-Crashkurse für die Freiwilligen, die in Afrika Entwicklungshilfe leisten wollten. „Den Erzbischöfen wollte ich aber nicht den Ring küssen“, empörte sich Steinwarz, und so bewarb sie sich bei der Firma Sachtleben, die damals zwölf Bergwerke und Fabriken unter einen Hut brachte. Und verdoppelte mal eben ihr Gehalt: von 680 auf 1300 Mark im Monat. „Das war damals ein Spitzengehalt“, sagt die alte Frau stolz. Wenn Käthe Steinwarz so erzählt, jongliert sie mit Namen, Daten, Orten und Lebensläufen. Immer noch hat sie großes Interesse an Geschichte, Politik und Wirtschaft, zieht kluge Schlüsse und malt große Zusammenhänge.

Doch statt großer weiter Welt ging es für Steinwarz Anfang der 1960er-Jahre wieder zurück nach Flamersheim. Ihr Bruder Peter war mit Willi Steinwarz befreundet, einem Allround-Talent, der Schlosser, Elektriker, Sanitär- und Heizung- sowie Radio- und Fernsehtechnik gelernt hatte. Ende 1962 heirateten die beiden, dann folgten schnell aufeinander die drei Kinder. Neben der Hausarbeit stand Käthe nun hinter der Ladentheke in Flamersheim, zudem machte sie die Buchführung. Ein Zehn-Stunden-Tag, meist sieben Tage die Woche. „Ich hatte nie Zeit zum Rasten. Irgendwann war ich total schlapp.“ Durch einen Zufall erkannte der Hausarzt eine Nierentuberkulose, die sie glücklicherweise überstand.

Seit Beginn gab es im Laden Sanitärartikel, Lampen und Elektronik, eben das, was zu den Angeboten der Firma passte. Dass die Flamersheimer heute hier auch Trauerkarten, Briefpapier, Satinbändchen, Freundschaftsbücher, Puppen, Kinderjacken, Tortenplatten und Flechtkörbe kaufen können, ist Käthe Steinwarz zu verdanken. „Das kam alles nach und nach. Die Kinder waren in der Schule und brauchten Hefte. Dann waren sie zu Kindergeburtstagen eingeladen und brauchten Geschenke. Aber ich hatte keine Lust, ständig nach Euskirchen zu fahren, deswegen habe ich die Sachen selbst ins Sortiment aufgenommen.“ Der Bedarf blieb, bis heute. Zur Kommunionszeit liegt bei Käthe Steinwarz die aus der Zeitung ausgeschnittene Liste aller Kommunionskinder auf der Ladentheke.

Käthe Steinwarz denkt eben mit. Und: Sie genießt immer noch den Ruf, dass man bei ihr „alles“ bekommen kann. „Letztens kamen Kunden ins Geschäft, die eine Tortenplatte mit kleinen Füßchen gesucht haben. Sie waren überglücklich und sagten, sie hätten überall danach gesucht.“ Doch das Hauptgeschäft war bis vor kurzem Haustechnik, Elektro und Sanitär. Teilweise beschäftigte die Firma Steinwarz mehr als 20 Angestellte. Willi Steinwarz starb 2013 und damit dieser Teil des Familienbetriebs.

Steinwarz’ Leben ist von Arbeit geprägt, sie war nur zweimal im Urlaub: Beide Male ging es nach England, mit dem Auto durch den Linksverkehr, zuletzt mit Enkelin Annika fünf Tage nach London. Allein darüber, wie sich die beiden Frauen mit Schlagfertigkeit und Glück durch die Hauptstadt schlugen, könnte man einen Artikel schreiben.

Auch mit 82 Jahren steht Käthe Steinwarz immer noch jeden Tag hinter dem Ladentisch. Ans Aufhören denkt sie nicht. „Den ganzen Tag nur lesen, das hält ja keiner aus. Ich brauche den Kontakt mit den Menschen, das hält mich fit.“ Eins ist sicher: Käthe Steinwarz weiß trotz des vermeintlichen Chaos im Laden jederzeit ganz genau, wo was steht. Auch wenn an manchen Artikeln noch der orangefarbene D-Mark-Preis klebt.

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