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WohngemeinschaftDie Neuhauser Lebensschule hilft Suchtkranken in ein neues Leben

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Männerrunde mit Frau: Die „Jungs“ der Wohngemeinschaft „Neues Leben“ und Betreuerin Naemi Weiß beim Abendessen.

Männerrunde mit Frau: Die „Jungs“ der Wohngemeinschaft „Neues Leben“ und Betreuerin Naemi Weiß beim Abendessen.

Hellenthal-Neuhaus – Acht Kilometer können lang sein. Von Dahlem aus geht es die gewundene Straße hoch in den Wald. Nicht zur Dahlemer Binz, nicht zum Wanderparkplatz. An einem der äußersten Zipfel des Nationalparks liegt Neuhaus. Das Örtchen besteht aus ein paar Häusern, die Gemeinde Hellenthal gibt die Einwohnerzahl auf ihrer Internetseite mit 34 an. Dann ein roter Klinkerbau: „WG Neues Leben e.V“. steht an der Wand. Die Kreisstraße führt weiter Richtung Rescheid oder Hellenthal. Doch hier ist eine Grenze. Unsichtbar, ohne Mauern.

In der Küche des Bauernhofs, der sich Wohngemeinschaft nennt, steht Jurij Gherman. Er ist 44, stammt aus Moskau und schneidet Rindfleisch in kleine Würfel: „Heute gibt es Azu, ein asiatische Gericht.“ Jurij, gelernter 3D-Designer, ist in der WG seit sechs Monaten der Koch. Die Aufgabe hat er sich ausgesucht. Sie reicht ihm völlig aus.

Denn es geht ihm um anderes, um ihn selbst: „Nie mehr Alkohol!“ Deshalb ist er nach dem Entzug in der Waldeinsamkeit von Neuhaus eingezogen. Wie 19 andere Männer aus Russland, Rumänien, Litauen und Deutschland, die ein neues Leben versuchen: Raus aus den Drogen, ein Leben ohne Alkohol, Opiate, Heroin. Zurück in die Gesellschaft. Sie war ihnen auf dem Weg in die Abhängigkeit verloren gegangen.

„Für viele der Jungs ist das hier nicht die letzte, es ist die einzige Chance!“ Eugen Drivas ist einer der acht professionellen Geburtshelfer im Betreuungsteam, zu dem auch zwei Sozialpsychologen gehören. Er stammt aus der Ukraine, ein bulliger Typ, der weiß, wie diese Großfamilie auf Zeit tickt. „Ich bin ein Ehemaliger. Auch ich habe meine Suchterfahrung hinter mir.“

Es ist kurz nach 14 Uhr. Der eng getaktete, lange Tag mit Arbeits- und „Hausaufgaben“-Programm für die 20 Männer zwischen 19 und 51 Jahren ist halb vorbei. 6 Uhr aufstehen, Morgengruppe für alle, Frühstück, Arbeitstherapie im Wald oder auf dem Hof mit seinen 103 Enten, 161 Gänsen, 13 Kühen, 60 Schweinen und 25 Hühnern. Eine Tagesstruktur schaffen für die, die lange Zeit jede Regel ignoriert haben, das ist entscheidend. Im Selbstversorger-Haus mit dem rustikalen Jugendheimstandard muss jeder für alle ran. Jeder muss verlässlich sein, sonst funktioniert die Finanzierung aus Dienstleistungen und dem Verkauf des Viehs nicht.

Ob der 24-jährige Michael – er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen – durchhält, ist noch unklar. Er hat nach vier Wochen gerade die Eingewöhnungsphase beendet. Gewöhnung auch an die Hausordnung. Und dass das Bargeld, das die Bewohner mitbringen, in den Safe kommt. Ein Teil geht in den Gemeinschaftstopf, zum Beispiel für Jurijs Rindfleisch. Braucht Michael etwas von dem Geld, muss er den Einkaufsbeleg abgeben.

In Michaels Zimmer, das er sich mit einem anderen Bewohner teilt, gleichen die Möbel ein wenig einem Sammelsurium. An der Tür steckt kein Schlüssel: Vertrauen und Kontrolle – ohne beides geht hier nichts. Deshalb wurde auch Michaels Handy – wie alle anderen auch – weggeschlossen. Als in den ersten Jahren nach der Eröffnung der WG Drogenpakete an der kleinen Bushaltestelle vor dem Bauernhof deponiert wurden, war mit der Handyerlaubnis Schluss.

Michael berichtet von den beiden Leben, die er führte: „Tagsüber war ich der Informationselektroniker in Marburg, abends und nachts der Alkoholiker.“ Seine Freundin hat ihn verlassen, der Job ist weg. „Nichts war stabil, ich konnte nichts aufbauen. Ich war labil.“ Nun hofft Michael auf Stabilität. „Wenn die Jungs ihr Zimmer aufräumen, die Wäsche ordentlich im Schrank liegt, dann merkt man: Hier hat einer ein Ziel“, sagt Eugen Drivas. Und er weiß auch: Michael braucht noch Zeit.

Das Ziel, das Harald Schuster und Daniel Bauer gerade haben, sind die Gänse auf dem Hof. Die Wassertröge sind an diesem Eifelsommertag frisch gefüllt, doch das Federvieh zieht es vor, sich aufgeregt in einer Ecke der umzäunten Wiese zu versammeln. Schuster ( 50, aus Rumänien) ist seit acht Monaten hier, Bauer (36, aus Deutschland), seit sieben. Sie bekennen sich wie alle der „Jungs“ zu ihrer Sucht. „Das hier ist eine der besten Chancen, die ich bisher hatte“, sagen sie übereinstimmend. Es soll mit dem, was war, vorbei sein. Das ist mühsam, das geht nur in kleinen Schritten. Doch die Gemeinschaft hilft. Dazu zählt auch das Abendessen der Männerrunde. Diejenigen, die tagsüber unter Betreuung draußen, etwa beim Holzeinsatz im Wald waren, sind wieder da. Jurij hat gekocht.

Nach der Abendrunde, Gruppen- oder Einzeltherapie, einer Gebets- und Bibelrunde der zur Evangelischen Freikirche in Blankenheim gehörenden Therapieeinrichtung ist der Tag zu Ende: Nachtruhe. Im Sommer ab 23 Uhr, im Winter eine Stunde früher.

Die Rückfallquote der Männer, die ausgezogen sind und auch die Nachbetreuungszeit im Wohnhaus in Blankenheim erfolgreich beendet haben, liegt seit 13 Jahren „unter zehn Prozent“, so WG-Leiter Grigori Neufeld. Groß ist seine Freude, wenn von den „Jungs“ eines Tages ein Foto kommt mit Kommentaren wie: meine neue Familie, meine neue Ehe, mein neues Leben. Die Bilder sind für die „Galerie der Erfolgsgeschichten“ im Flur der Neuhauser Lebensschule.

Auch im „Therapie statt Strafe“-Programm

Ein halbes bis maximal ein Jahr dauert die Resozialisierung in der Neuhauser Männer-WG, die insgesamt 23 Plätze hat. Im Anschluss stehen  15 Plätze im „Adaptionshaus“ in Blankenheim für eine meist halbjährige Nachbetreuung zur Verfügung. In der Zeit soll für die ehemaligen Bewohner ein Job und eine Wohnung gefunden werden. Ehemalige Bewohner bleiben dem Haus oft auch darüber hinaus freundschaftlich verbunden.

Die meisten   WG-Bewohner kommen auf Empfehlung der Familie oder von Verwandten  nach Neuhaus. Alle haben eine Drogen- oder Alkoholikerkarriere hinter sich, einen Entzug absolviert und wollen nun eine Resozialisierung im Selbstversorger-Haus, das sich selbst finanzieren muss.

Auf Beschluss der Gerichte sind auch  immer wieder mal    verurteilte Straftäter nach Paragraf 35 des Betäubungsmittelgesetzes unter den WG-Bewohnern. Dieser Paragraf   steht für das Konzept „Therapie statt Strafe“: Unter bestimmten Bedingungen   können Straftäter statt eines Gefängnisaufenthalts    eine Therapie  erhalten. Die Betreuungseinrichtung  in Neuhaus ist laut einem  Beschluss der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf   grundsätzlich für dieses Konzept geeignet.

Wer eine Therapie in der WG in Neuhaus abgebrochen hat, kann nach Angaben von Grigori Neufeld jederzeit einen neuen Versuch starten.

Der Diplom-Psychologe Grigori Neufeld  aus Blankenheim hatte die WG „Neues Leben“  2003 speziell für straffällig gewordene  und/oder drogenabhängige Männer aus Osteuropa gegründet. Zuvor war er in der Jugendarbeit in Blankenheim beschäftigt. Der Tod eines Jugendlichen an einer Überdosis brachte ihn dazu, 2003 die WG zu eröffnen. Träger der Wohngemeinschaft  ist die Freikirchliche Christliche Gemeinde Neues Leben Blankenheim. Die WG   ist Mitglied bei  „Die Paritätische NRW“ mit Sitz in Wuppertal (bekannt unter dem alten Namen  Paritätischer Wohlfahrtsverband).

Die Einrichtung in Neuhaus ist im Kreis Euskirchen  am ehesten vergleichbar mit dem Wohnheimangebot im Clemens-Josef- Haus („Vellerhof“) bei Blankenheim, das der Rheinische Vereins für Katholische Arbeiterkolonien betreibt. Das Therapie- und Wohnangebot des Vellerhofs ist im Gegensatz zur Einrichtung  Neues Leben  vom Landschaftsverband Rheinland als überörtlichem Träger der Sozialhilfe anerkannt. 

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