Strafanzeige in KallLehrer nahmen 14-Jährige mit Down-Syndrom in den Schwitzkasten

Lesezeit 5 Minuten

Kreis Euskirchen/Kall – Juana und Alexander Johag aus Nitterscheid waren heilfroh, als ihre behinderte Tochter Bettina (Name geändert) im Herbst 2015 eine neue Schule gefunden hatte. In der Hans-Verbeek-Förderschule war die damals 14-Jährige, die mit dem Down-Syndrom geboren wurde, nicht mehr zurechtgekommen. „Sie wollte da einfach nicht mehr hin, hat total blockiert und sich im Schulbus mehrfach erbrochen“, berichtete Werner Johag, der Großvater des Kindes, im Gespräch mit dieser Zeitung.

In der Kaller St.-Nikolaus-Schule sollte Bettina also einen Neuanfang machen. Es sei alles gutgegangen, bis Mutter Juana einen Anruf der Schule erhalten habe, in dem sie gebeten worden sei, ihre Tochter, der es offenbar nicht gut gehe, abzuholen. Als Juana Johag im Klassenzimmer ihrer Tochter eingetroffen sei, habe sie das Mädchen auf dem Boden liegend vorgefunden. Vier Lehrer und Betreuer hätten die 14-Jährige im Fixiergriff gehabt.

Die Mutter sei entsetzt über diesen Umgang mit Bettina gewesen, die nur über das Auffassungsvermögen eines Kleinkinds verfüge und nach der konzertierten Aktion der St.-Nikolaus-Mitarbeiter völlig verstört gewesen sei.

Alles zum Thema Universität zu Köln

Misshandlung einer Schutzbefohlenen

Jetzt hat der Vorfall, der sich im November 2015 ereignete, möglicherweise ein gerichtliches Nachspiel. Denn die Eltern und Großeltern des Mädchens sowie die Kinderärztin Dr. Birgit Hellmann-Mersch haben bei der Staatsanwaltschaft Aachen Strafanzeige wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen an der St.-Nikolaus-Schule erstattet. „Man muss sich das mal vorstellen: Meine Enkelin ist 1,30 Meter groß, und da hocken dann vier Leute auf ihr, um das Mädchen festzuhalten“, schimpfte Werner Johag.

Für ihn ist das an den Förderschulen im Kreis seit einiger Zeit praktizierte Antigewalt- und Sicherheitssystem (AGS) schuld daran, dass seine Enkelin sich plötzlich im Schwitzkasten wiedergefunden habe. „Bettina ist sicher nicht immer einfach zu handlen, aber solch gravierende Maßnahmen sind einfach nicht hinnehmbar“, sagte Johag, der den Vorfall als Großvater des Mädchens nicht einfach auf sich beruhen lassen wollte. Mit der Strafanzeige will er erreichen, dass das AGS an den Förderschulen nicht mehr eingesetzt wird – zumindest, was geistig behinderte Menschen betrifft.

Bevor Bettina an die Schule nach Kall wechselte, hatte es eine Elterninformation gegeben, in der das AGS vorgestellt worden war. „Meine Schwiegertochter hat damals gegenüber der Schulleiterin ausdrücklich erklärt, dass sie damit nicht einverstanden ist“, sagte Werner Johag.

Das sagt die Bezirksregierung

In einem Brief der Bezirksregierung an Werner Johag heißt es zu den Vorfällen: „Die Lehrkräfte in Bettinas Klasse haben im Dienstgespräch ausgesagt, dass Bettina in drei Fällen andere Personen geschlagen habe, sei es die Klassenlehrerin, eine Schulbegleiterin oder andere Kinder. In einem Fall war der Auslöser, dass Bettina gegen das Schulmobiliar in der Klasse getreten habe. Letztere Maßnahme, die durch keine Fremdaggression gegen andere Person ausgelöst worden ist, war nicht mit einem Festhalten verbunden, sondern mit einer Einengung des Bewegungsraumes.“

Die Johags sind nicht die einzigen, die dem Antigewalt- und Sicherheitssystem kritisch gegenüberstehen. Der Kaller Kinder- und Jugendlichenpsychologe Michael Czurda liegt deshalb im Dauerclinch mit Andrea Luxemburger-Schlösser, der Leiterin der St.-Nikolaus-Schule. Czurda hat sich mehrfach kritisch zum AGS geäußert. „Ich habe das Festhalten im Rahmen des AGS mit mittlerweile sicher 50 Fachleuten besprochen. Alle waren sich einig, dass die Gefahr von Retraumatisierungen enorm hoch ist“, schreibt der Therapeut in einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Schulleiterin an die Bezirksregierung.

Ganz anders sieht Achim Sassmann, Leiter der Nordeifel-Werkstätten (NEW) in Ülpenich und Zingsheim, die Sache. „Das Antigewalt- und Sicherheitssystem wird zurzeit in unseren Werkstätten eingeführt. Und wir haben bei den Trainings bisher nur gute Erfahrungen mit dem System gemacht“, sagte Sassmann auf Anfrage. Es komme vor, dass Beschäftigte in der NEW aufgrund ihrer Lebensgeschichte eigen- und fremdaggressiv seien. Sie schlügen zum Beispiel um sich oder verletzten sich selbst. „Das AGS arbeitet vorbeugend und ist eine weitere Professionalisierung unserer pädagogischen Handlungsweisen. Das Festhalten wird nur ganz selten als letzte Möglichkeit eingesetzt, um die Beschäftigten und die Mitarbeiter vor Verletzungen zu schützen“, so der Werkstätten-Chef.

Den Mitarbeitern werde mit dem AGS ein eindeutiges Handlungskonzept, auch im Umgang mit aggressiven Menschen mit Behinderungen, an die Hand gegeben. Das Verhalten der meisten Beschäftigten der NEW sei völlig problemlos, aber es gebe eine Handvoll Menschen, die hin und wieder zu ihrem eigenen Schutz und zur Sicherheit der Mitarbeiter im Zweifelsfall festgehalten und beruhigt werden müssten.

Andrea Luxemburger-Schlösser, die Leiterin der St.-Nikolaus-Schule, wollte sich zur Strafanzeige ebenso wenig äußern wie Barbara Bialas (Hermann-Josef-Schule Urft), deren Weiterbildungsfirma TC 360 Grad das Antigewalt- und Sicherheitssystem entwickelt hat.

Was ist das AGS?

Die Firma TC 360 Grad, die das Antigewalt- und Sicherheitssystem entwickelt hat, wurde von Michaela Pursian und ihrer Geschäftspartnerin Barbara Bialas 2009 als GbR gegründet. Pursian erklärt dazu: „Meine Fortbildungstätigkeit fand im Rahmen einer von der Bezirksregierung genehmigten Nebentätigkeit statt. Ich habe mit der Aufnahme meiner Tätigkeit als Schulrätin die GbR verlassen und meine Fortbildungstätigkeit niedergelegt.“

Man habe Fortbildungen zu verschiedenen pädagogischen Themen durchgeführt, so zu Classroom- Management und Umgang mit schwierigen Kindern. Die Inhalte seien zum Teil in enger Absprache mit der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln (Prof. Dr. Thomas Hennemann) abgestimmt und aufgrund moderner fachlicher Literatur entwickelt worden. „Das Antigewalt- und Sicherheitssystem wurde von eben dieser mehrfach evaluiert“, heißt es in der Stellungnahme.

Das Konzept ist entwickelt worden für Kinder und Jugendliche, die fremd- und eigengefährdendes Verhalten zeigen und somit eine Gefahr für sich und ihre Umwelt darstellen. Das eigentliche Festhalten, das am Ende einer pädagogischen Handlungskette steht, ist ausschließlich für den Fall vorgesehen, dass ein Kind oder Jugendlicher die Impulskontrolle verliert, sich selbst gefährdet oder andere angreift und Gewalt anwendet. In dieser Nothilfesituation wird das Kind/der Jugendliche von mehreren Erwachsenen festgehalten. (hoc)

KStA abonnieren