InterviewPraktikum in Behinderten-Werkstatt

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Lisa Unshelm (l.) bei der Arbeit mit den behinderten Menschen, gemeinsam mit zwei Mitschülern (2. v. l. und 3. v. r.).

Lisa Unshelm (l.) bei der Arbeit mit den behinderten Menschen, gemeinsam mit zwei Mitschülern (2. v. l. und 3. v. r.).

Leverkusen – Lisa, wie bist Du auf die Behinderten-Werkstatt gekommen?

LISA UNSHELM: Ich wohne ganz in der Nähe der WfB-Werkstatt und da sieht man natürlich auch jeden Tag die Menschen zur Arbeit gehen. Es hat mich immer interessiert, was dort so gemacht und wie dort gearbeitet wird.

War für Dich denn von vornherein klar, dass Du in eine Werkstatt für Behinderte willst? Es gab ja auch andere Praktikumsstellen, zum Beispiel im Altenheim, im Krankenhaus, in der Grundschule oder im Kindergarten.

LISA: Klar, da gab es natürlich viele Möglichkeiten. Ein Praktikum im Kindergarten hätte mich auch interessiert. Aber im Großen und Ganzen weiß man ja, wie es in einem Kindergarten aussieht und wie sich die Arbeit dort gestaltet. Ich wollte gerne etwas Neues kennenlernen, und diese Möglichkeit hatte ich bei der WfB.

Hast Du dir vor Praktikumsantritt viele Gedanken gemacht?

LISA: Zunächst habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Ein paar Tage vor Praktikumsantritt dann aber schon. Da kamen dann natürlich Fragen auf und auch Unsicherheiten.

Welche Sorge oder Unsicherheit war besonders präsent?

LISA: Ich war unsicher, ob ich eventuell Schwierigkeiten haben könnte, auf die behinderten Menschen einzugehen. Außerdem habe ich mir Gedanken gemacht, ob ich überhaupt mit den eventuell schweren Lebensumständen und Schicksalen zurecht kommen würde.

Mit welchen Gefühlen bist Du am ersten Tag zur Arbeit gegangen?

LISA: Mir war ein wenig mulmig zumute. Ich wusste ja nicht, was mich erwartet. Bis dahin hatte ich noch nie wirklich Kontakt zu behinderten Menschen, und dann waren es plötzlich gleich 100 Menschen, die ich treffen würde.

Was war Dein erster Eindruck?

LISA: Mich hat sofort die Offenheit und Herzlichkeit fasziniert, mit der die behinderten Menschen auch fremden Leuten wie zum Beispiel mir entgegenkommen. Zudem hat mich wirklich beeindruckt, mit welcher Freude die Behinderten morgens zur Arbeit gehen.

Worin bestanden Deine Aufgaben?

LISA: Hauptsächlich darin, mit den Behinderten zu reden und sie zu unterstützen, wenn sie bei der Arbeit Schwierigkeiten hatten. Es gehörte auch zu meinen Aufgaben, den Menschen einfach zuzuhören und zu versuchen, ihnen zu helfen, wenn sie von privaten Problemen erzählten.

Gab es ein Ereignis, das für Dich besonders schwer oder anstrengend war?

LISA: Viele Behinderte haben permanent versucht, mich zu umarmen oder mich am Arm zu streicheln. Einmal hat sogar jemand versucht, mich zu küssen. In solchen Momenten habe ich versucht, ruhigzubleiben und den Behinderten zu erklären, dass mir diese Gesten eher unangenehm sind. Das war für mich schon anstrengend. Außerdem musste ich ein paar Leuten öfters erklären, dass ich sie nicht heiraten und auch nicht ihre feste Freundin sein kann.

Wie sind die Leute auf Dich zugekommen?

LISA: Sie haben mich immer sehr herzlich begrüßt und waren auch sehr offen mir gegenüber. Untereinander waren sie hilfsbereit und freundlich. Das war auf jeden Fall schön.

Welche Erfahrung wird Dich noch lange begleiten?

LISA: Es ist total beeindruckend, wie die Menschen ihren Alltag meistern, obwohl sie oft stark beeinträchtigt sind. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie sehr gerne Snowboard fährt. Hätte ich sie einfach so auf der Straße getroffen, hätte ich nie gedacht, dass sie so etwas kann. Es ist unglaublich, was in diesen Menschen steckt und welche Talente sich in ihnen verbergen.

Was nimmst Du aus dem Praktikum mit?

LISA: Ich denke, viele kennen das Gefühl, dass man erst einmal ein wenig auf Abstand geht, wenn man behinderten Menschen begegnet. Früher hatte ich auch immer ein bisschen "Angst" vor diesen Menschen. In meinem Praktikum ist mir aber ganz schnell klar geworden, dass das völlig unberechtigt ist. Diese Menschen unterscheiden sich doch eigentlich kaum von uns, und viele sind sogar freundlicher und hilfsbereiter als "normale" Menschen. Ein Vorurteil gegen behinderte Menschen sollte man wirklich nicht haben.

Du sprichst immer wieder die Freundlichkeit der behinderten Menschen an.

LISA: Genau. Die meisten Behinderten in der Werkstatt verhielten sich untereinander wie eine große Familie. Das hat mich sehr beeindruckt! Ich denke, heutzutage kann man diese Freundlichkeit nicht mehr von jedem einfach so erwarten.

Hast Du dir durch das Praktikum mehr Gedanken über die Situation der Behinderten gemacht?

LISA: Auf jeden Fall! Viele waren nicht in der Lage, sich selbstständig umzuziehen oder hatten Schwierigkeiten bei der täglichen Körperpflege, und so hatten sie oft tagelang dasselbe an oder waren oft ungepflegt und nicht geduscht. Außerdem hatten einige oft nichts zu essen dabei und mussten deshalb von den Betreuern der Werkstatt verpflegt werden. Dieses Gefühl, dass die Behinderten, die stärker auf Hilfe im Alltag angewiesen sind, nicht ausreichend Hilfe bekommen, hat mich wirklich traurig gemacht.

Würdest Du eine solche Erfahrung weiterempfehlen?

LISA: Für mich war das Praktikum eine tolle Erfahrung. Aber ich glaube, wenn jemand Probleme damit hat, sich offen auf neue Erfahrungen oder andere Personen einzulassen oder sich auf völlig andere Lebensumstände einzustellen, dann ist ein solches Praktikum eher nicht für ihn geeignet. Ich persönlich bin froh, dass ich dieses Praktikum absolviert habe. Es war toll, so viel Neues kennenzulernen. Wenn man wirklich dazu bereit ist, sich auf das "Abenteuer" einzulassen, dann wäre eine solche Erfahrung auf jeden Fall weiterzuempfehlen.

Das Gespräch führte Caroline Leicht

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