„Delfine der Weiden“Alpaka-Therapie in Gladbach hilft traumatisierten Soldaten

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Familienbesuch bei den Alpakas: Bundeswehrsoldat Stefan L. mit seinen „Prinzessinnen“ und den Tieren Estoban und Luis Pablo

Familienbesuch bei den Alpakas: Bundeswehrsoldat Stefan L. mit seinen „Prinzessinnen“ und den Tieren Estoban und Luis Pablo

Bergisch Gladbach – Der Moment hat etwas von Magie. Auge in Auge stehen sich der Mann und die beiden Alpakas gegenüber und scheinen sich zu unterhalten. Wie ein zartes Blöken klingt der „Gesang der Anden“. Stefan L. imitiert die Rufe der Alpakas, und mit einer Mischung aus Neugier und Vertrauen rücken die scheuen Tiere näher und näher. So nah, bis ihre Nasen den Kopf von Stefan L. berühren. Ein Bild vollkommener Ruhe und Harmonie. Das Leben von Stefan L. ist genau das Gegenteil.

Er heißt in Wirklichkeit anders. Der Mann ist Bundeswehrsoldat, und er ist krankgeschrieben. Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung – PTBS. Seine Welt ist aus den Fugen geraten. Peter Tittel ist Psychologe und Psychotherapeut, viele Jahre mit eigener Praxis. Jetzt ist er 68 Jahre alt und der Ruhestand ist nicht sein Ding. Seit drei Jahren arbeitet er mit traumatisierten Bundeswehrsoldaten in seinem Gartenhaus im Bergisch Gladbacher Großhohn – unterstützt von zwei Alpakas, seiner Frau und der Stille von sechs Hektar Grünland.

„Keiner will als Weichei abgestempelt werden“

Der Oberstabsgefreite der Marine Stefan L. verbringt 2009 mehrere Monate auf einer Fregatte am Horn von Afrika, um bewaffnete Piraten am Kapern von Handelsschiffen zu hindern. Da ist er 21 Jahre alt. Als er zurückkommt, gibt es zwei Wochen auf dem Truppenübungsplatz, einen Lehrgang und einen Flug in den Libanon. In Beirut überprüft er Fahrzeuge auf Sprengstoff. Immer wieder, monatelang. Bei jedem einzelnen Fahrzeug schwingt das Bewusstsein mit, Sprengstoff entdecken zu können, und die Angst, ihn nicht früh genug entdecken zu können.

Auch aus dem Libanon kehrt Stefan L. körperlich unversehrt zurück, besucht das obligatorische Einsatzrückkehrerseminar. „Normalerweise soll man da über Belastungen im Einsatz berichten“, sagt er. „Das macht aber keine Sau. Keiner will als Weichei abgestempelt werden. Da wird getrunken und Spaß gehabt, und dann geht’s zurück in die Truppe.“

Von den traumatischen Erlebnissen eingeholt

Er geht zurück in die Truppe, bekommt Asthmaanfälle, wird versetzt, sieht seine Familie höchstens zweimal im Monat. Nicht angenehm, aber alles noch im grünen Bereich. Dass die Bundeswehr kein Ponyhof ist, musste Stefan L. nie jemandem erklären. Im Juli 2014, sein letzter Auslandsaufenthalt ist vier Jahre her, erhält ein Kumpel eine Abfuhr von einer Frau. Sie trinken ein Glas zu viel, und noch eins zu viel. „Und plötzlich brach meine Friede-Freude-Eierkuchen-Welt zusammen“, sagt Stefan L. „Da kam alles raus. Und dann war meine Welt kaputt.“

Peter Tittel kennt die Symptome der PTBS (siehe „Posttraumatische Belastungsstörung“) aus vielen Sitzungen. „Flashbacks kommen wie aus heiterem Himmel“, sagt er. „Da drängen sich Erinnerungen massiv auf.“ Für Stefan L. dominieren die Symptome sein Leben. „Wenn die Türklingel geht, schrillen bei mir alle Alarmglocken“, sagt er und beschreibt, wie ein Wenig an Kinderlärm ein Viel an Aggression auslösen könne. Das, was sein Gehirn innerhalb von Millisekunden ungebeten aus der Verdrängung ausgräbt, können weder Wille noch Vernunft ausschalten. Manche Rückkehrer begleiten die Filme in ihrem Kopf ein Leben lang.

Mit Therapie zurück in die Normalität

Für Stefan L. sind Peter Tittel und die Alpakas nach Klinikaufenthalten und ambulanter Therapie ein weiterer Versuch, einen Weg zurück in die Normalität zu finden. „Mir gefällt es hier. Und mir hilft es“, sagt er. Er steht am Zaun und beobachtet Anneliese Enkler-Tittel, wie sie Estoban und Luis Pablo von der Weide holt. Sie ist – wie die Tiere auch – eine Art „Co-Therapeut“.

Stefan L. greift sich den Strick an Luis Halfter und stellt sich ein Stück abseits. Er duckt sich auf Augenhöhe mit dem Tier, nimmt die Hände auf den Rücken, wartet und nähert sich beinahe unmerklich Zentimeter um Zentimeter. Estoban lässt es geschehen. „Das gelingt nur wenigen“, sagt Peter Tittel. „Alpakas bestimmen selbst den Abstand zum Menschen. Wenn man nicht sehr einfühlsam ist, dann bleiben sie weg.“

Alpakas – einfühlsam und ehrlich

Das Einfühlungsvermögen zu stärken ist nur eins der Ziele der Alpakatherapie. Die „Delfine der Weiden“ sind Mediator zwischen Therapeut und Patient. Sie fordern nichts, und sie halten mit unbestechlicher Ehrlichkeit einen Spiegel vor. „Die Fähigkeit, ohne Worte zu kommunizieren, haben wir als Kleinkind gehabt und müssen sie wieder aktivieren“, sagt Peter Tittel. „Da läuft ganz vieles ab.“

Der Psychologe war selbst bei der Bundeswehr, absolvierte als Fallschirmjäger die Offizierslaufbahn. Ein Türöffner bei der Therapie. „Wir sprechen die gleiche Sprache“, sagt er. Auch im Kreisklinikum Siegen, wo Tittel in Teilzeit in der Trauma-Ambulanz arbeitet, greifen die Kollegen auf ihn zurück, wenn es um Patienten aus Kriegseinsätzen geht. „Viele Ärzte verstehen das nicht. Sie denken, das sind doch starke Männer, die freiwillig in den Einsatz gegangen sind“, sagt er.

Fremd in der heilen Welt ihres Heimatlandes

Nicht nur Ärzte verstehen das nicht. Nach über 70 Jahren Frieden in Deutschland weiß kaum mehr jemand, was es am eigenen Leib bedeutet, im Krieg gewesen zu sein – und meist will es auch niemand wissen. Wo eine Baustellenumleitung bereits als massiver Eingriff in die Komfortzone gewertet wird, ist die Messlatte nicht hoch genug, um Sprengstoffanschläge oder den Anblick von Kindern, die mit Minen gespielt haben, in Relation zu erfassen. Der Krieg lässt sich vom Sofa aus mit einem Tastendruck ausschalten. Stefan L. und seine im Ausland eingesetzten Kameraden haben keine Fernbedienung für ihre Erinnerungen. Mit ihrer mitgebrachten Welt des Schreckens stehen sie allein und fremd in der heilen Welt ihres Heimatlandes.

Stefan L. weiß weder, ob er wieder zurück zur Arbeit bei der Bundeswehr kann, noch, ob er es will. „Einerseits schon. Weil ich nichts anderes kenne“, sagt er. Mit 19 war die Verpflichtung sein Ausweg aus einem Elternhaus mit zu viel Alkohol. „Wenn, wäre es mir total egal, was ich mache“, sagt er. Hauptsache heimatnah. Wenn nicht, würde er gern KFZ-Mechatroniker lernen und sich auf Luftfahrttechnik spezialisieren. Die Bundeswehr unterstützt die Ausbildung der Soldaten auch nach dem Ausscheiden.

Wenn nur der Augenblick und nicht die Vergangenheit zählt

Estoban spielt derweil den Clown. Er trippelt, hüpft, zieht am Strick, dreht Hals und Augen in alle Richtungen. Bis Stefan L. ihn in seine „Unterhaltung“ mit Luis einbezieht. Während das Tier zur Ruhe kommt, scheinen bei Stefan L. die Bilder, die ihn bedrängen, die Angst und Panik, die ihn quälen, zu verschwinden. All dem wird er sich zu einem späteren Zeitpunkt der Therapie stellen müssen. In diesem Augenblick zählt nur, dass sie gerade einmal weg sind.

Stefan L. ist jetzt 28 Jahre alt. Er hat drei Töchter, die er „meine Prinzessinnen“ nennt. Sie und seine Frau sind an jenem Wochenende mitgekommen nach Großhohn im Bergischen Land, stapfen glücklich mit Gummistiefeln über das Gelände.

Dann kommt noch mehr Besuch. Es gibt Kaffee und Kuchen und fröhliche Gespräche. Für Stefan L. ist das zu viel. Er steht allein oben an der Zufahrt, blickt über die Weiden, den Wald, die Tiere und schweigt. Ohne den Blick von der Landschaft abzuwenden, sagt er schließlich: „So etwas hier, das ist so das Leben, das ich mir für später auch mal vorstelle.“

Posttraumatische Belastungsstörung

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt als eine verzögerte psychische Reaktion auf ein extrem belastendes Ereignis auf, wie zum Beispiel Unfälle, Gewaltverbrechen oder Kriegshandlungen. Typisch für die PTBS sind Symptome des Wiedererlebens, die sich den Betroffenen tagsüber in Form von Flashbacks, nachts in Angstträumen aufdrängen und Panikattacken auslösen können. Das Gegenstück dazu sind Vermeidungssymptome: emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit der Umgebung und anderen Menschen gegenüber; in der Folge soziale Vereinsamung.

Zwischen 11 und 30 Prozent der Soldaten haben in Auslandseinsätzen traumatische Erlebnisse. Gut ein Fünftel von ihnen tragen eine psychische Störung davon, knapp drei Prozent eine Posttraumatische Belastungsstörung.

Immer weniger Bundeswehrsoldaten absolvieren Auslandseinsätze, doch weil psychische Leiden oft verzögert auftreten, nimmt der Behandlungsbedarf insgesamt zu. Die Gesamtzahlen der einsatzbedingten psychischen Neuerkrankungen sind laut Bundeswehr-Statistik in den vergangenen zehn Jahren stetig gestiegen. Die PTBS-Behandlungskontakte bei der Bundeswehr sind seit 2006 von unter 100 auf knapp 1800 jährlich angestiegen. Oberstarzt Dr. Peter Zimmermann vom Psychotraumazentrum der Bundeswehr in Berlin schätzte schon 2015 laut „bundeswehr-journal“ die Dunkelziffer einsatzbedingt traumatisierter Soldaten auf etwa 5000 bis 10 000, etwa 3000 bis 5000 davon mit PTBS. Die Bundeswehr hat in den vergangenen Jahren Hilfsstrukturen geschaffen, um Soldaten aus ihrer Schamhaltung zu holen.

Alpaka-Therapie

Das Alpaka ist eine aus den südamerikanischen Anden stammende domestizierte Kamelform, die vorwiegend ihrer Wolle wegen gezüchtet wird. In Deutschland werden Alpakas wegen ihrer ruhigen und friedlichen Art häufig in der tiergestützten Therapie eingesetzt. Neben dem Training körperlicher Fähigkeiten wie Gleichgewicht, Koordination und Körperspannung, sollen die Tiere helfen, die Konzentration zu erhöhen, Kontaktängste zu überwinden, Kommunikationsschwierigkeiten zu lösen sowie Selbstvertrauen und das Einfühlungsvermögen zu stärken.

www.alpakatherapie.nrw

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