Kein Wahlkampf – PodiumsdiskussionGregor Gysi füllt die Gladbacher Gnadenkirche

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Kein Wahlkampfauftritt, sondern Gespräche über die Reformation: Der Politiker Gregor Gysi zu Gast in der Gnadenkirche.

Kein Wahlkampfauftritt, sondern Gespräche über die Reformation: Der Politiker Gregor Gysi zu Gast in der Gnadenkirche.

Bergisch Gladbach – Beamte von Bundeskriminalamt und Kreispolizei sichern am Freitagabend die Gnadenkirche, als nach einem verspäteten Flug aus Berlin schließlich der eintrifft, von dem man in diesen Tagen eher einen rhetorisch-geschliffenen Wahlkampfauftritt für die Linke erwartet hätte. Doch dafür ist Gregor Gysi nicht an die Strunde gekommen. Thomas Werner, der Pfarrer der evangelischen Gnadenkirche, hat den überzeugten Linken für ein ganz anderes Thema gewinnen können: „Die Bedeutung der Reformation für unser heutiges politisches Denken.“ Die Kirche ist proppenvoll, 270 Besucher stehen bis vors Kirchenportal, verfolgen das Gespräch unter dem Kreuz im Altarraum der Kirche teilweise per Direktübertragung aus dem Gemeindesaal.

„Ich bin nicht religiös, ich war’s auch nie, das ändert aber nichts an meinem Respekt für Kirche und Religion“, bekennt der ehemalige SED-PDS-Politiker und spätere langjährige Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Ohne Kirche und Religion gäbe es in einer Zeit, da der Staatssozialismus bekanntermaßen gescheitert sei, überhaupt keine verbindliche Moral – auch wenn sich nur eine Minderheit danach richte, so Gysi, der nach eigenem Bekunden in der Bibel etwas lieber liest „als manches Mitglied der CDU“. Die Reformation habe bis heute eine vielfache Bedeutung, auch wenn es Martin Luther wie den übrigen Reformatoren um Erneuerung der Kirche und nicht um eine Spaltung gegangen sei, betonte Gysi. Neben der Bedeutung der Reformation für die Entwicklung eines modernen Völker- und Staatsrechts hob der Politiker und Jurist auch die befreiende Bedeutung von Luthers Bibelübersetzung hervor. Warum die bis ins 16. Jahrhundert immer noch in Latein geschrieben war? „Herrschaft drückt sich auch in einer Sprache aus, die man nicht versteht“, so Gysi. Auch die Musik von Bach etwa hätte es ohne die Reformation nicht gegeben.

Allerdings, so bemängelte der Politiker auch, sei der Blick in die Geschichte oft zu ideologisch. „Ich möchte, dass die, die Marx lieben, auch Luther lieben, und die, die Luther lieben, auch Marx zumindest respektieren“, so Gysi im Hinblick auf den 200. Geburtstag von Marx im nächsten Jahr. Aus der Reformation könne auch die Politik lernen, nämlich, dass es nicht gut ist, zu überziehen. „Wenn du überziehst, löst du eine Gegenbewegung aus. So hat es auch nach der Reformation eine Gegenreformation gegeben.“ Aktuelle Parallele: Die Flucht zahlreicher in ihrer Heimat notleidender Menschen nach Europa. Das habe in vielerlei Hinsicht aktiv zu den schlechten Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern beigetragen, etwa durch billige Lebensmittel-Exporte nach Afrika, die dort Eigenanbau unrentabel mache.

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Mit erhobenem Zeigefinger zu dozieren ist Gysis Sache nicht. Im Gespräch mit der Autorin und Journalistin Christine Eichel brachte er gesellschaftliche Entwicklungen humorvoll auf den Punkt („Jede neue Technik bringt auch neue Arbeitsplätze: Erst wurde das Telefon erfunden, dann die Telefonseelsorge“) und gab sehr persönliche Einblicke in sein Leben. So berichtete er von den zahlreichen Klagen, die er zu DDR-Zeiten auch auf Bitten des evangelischen Pfarrers, Bürgerrechtlers und heutigen CDU-Politikers Rainer Eppelmann sowie im Namen von Ausreisewilligen bei DDR-Gerichten eingereicht hatte.

Selbst wenn der Staatssozialismus heute auch nach Gysis Überzeugung zweifellos gescheitert sei, so sei eine neue Reformation möglich und werde auch kommen. Dazu müsse die Jugend auch gegenüber seiner Generation aber noch viel rebellischer werden, befand Gysi. Und auch auf die Frage von Pfarrer Thomas Werner, welche Rolle die Kirche bei einer neuen Reformation übernehmen könne, hatte der Politiker eine klare Ansage: In der sozialen Frage müssten die Kirchen dringend ihre Stimme erheben. Dazu gehöre auch der Mut, sich mit einigen der eigenen Mitglieder anzulegen, sagte Gysi. „Aber auch das war ja nicht zuletzt eine Stärke von Martin Luther.“

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