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EitorfLeben zwischen Kunst und Gemüse – Sevim Zorlu kennt fast jeder im Ort

Lesezeit 4 Minuten
Die Farbe Rot brachte Sevim Zorlu im großen Format zur Geltung.

Die Farbe Rot brachte Sevim Zorlu im großen Format zur Geltung.

Eitorf – Fast jeder im Ort kennt sie: Sevim Zorlu (50) steht täglich zwölf Stunden hinter der Theke ihres Gemüseladens – außer sonntags.

Den Laden hat sie vor 23 Jahren eröffnet, in einem weißen Zweckbau am Ortsrand. Zorlu muss lachen, wenn sie daran denkt, dass sie anfangs nicht mehr als ein paar Kisten mit Äpfeln im Angebot hatte. „Ich kannte ja gerade mal zwei Sorten.“

Sevim Zorlu lacht viel. Sie ist eine kleine, energiegeladene Person mit kurzen schwarzen Haaren, die ihren Beruf liebt. Ihr Sortiment hat sie kräftig erweitert: Neben Äpfeln türmen sich Orangen, Kürbisse, Bananen und Birnen. Sie bietet Antipasti, Öle und Eier – vieles aus der Region.

Nicht wenige Kunden kaufen schon in der zweiten Generation bei ihr ein. Doch Zorlu ist nicht nur Gemüsehändlerin. Wenn sie abends die Ladentür abgeschlossen hat, verschwindet sie im Keller – in ihrem Atelier.

Vor zwei Jahren hatte sie ihre erste Ausstellung in Eitorf, ein Jahr später die zweite in Hennef, die dritte Ausstellung fand im Oktober in Troisdorf statt. „Die Frau hat Potenzial“, sagt der Künstler Giovanni Vetere, ein Nachbar und Kunde, der mit Zorlu befreundet ist: „Sie hat ein Gefühl für Farben, und das Wichtigste: Sie malt mit Leidenschaft.“

Sevim Zorlu ist angekommen, so scheint es, sie strahlt das Glück eines Menschen aus, der tut, was ihm Spaß macht. Dabei hat sie schwere Zeiten hinter sich. In Farac ist sie aufgewachsen, einem kleinen Dorf im Osten der Türkei, einer losen Ansammlung von Lehmhäusern.

Die Bewohner versorgten sich selbst, hielten Schafe, Kühe und Hühner. Es gab kein fließendes Wasser, keinen Strom. 1969, als Zorlu drei Jahre alt war, verließ ihr Vater das Dorf und nahm in Remscheid einen Job als Schweißer an. Ein Jahr später folgte ihm seine Frau – mit Tochter Sevim.

Die Mutter arbeitete in einer Chemiefabrik. „Meine Eltern mussten viel arbeiten“, erinnert sich Zorlu. „Deswegen musste ich nach zwei Jahren wieder in die Türkei.“ Zorlu war gerade sechs geworden und wurde zum „Kofferkind“ – so heißen die Kinder türkischer Einwanderer, die teilweise Jahre lang zwischen den Welten hin und her wechseln mussten.

Jahre später lebten die Eltern in Eitorf einer kleinen Altbauwohnung: vier Zimmer, Strom, fließendes Wasser. „Für mich war das purer Luxus“, erinnert sich Zorlu. „Ich habe mich sehr schnell an Deutschland gewöhnt. Ich konnte mich immer schnell an meine Umgebung anpassen.“

Das musste sie auch, denn mit zehn Jahren verließ sie Eitorf einmal mehr und flog mit ihrer Großmutter zurück in die Türkei. Erst 1979, als sie zwölf war, entschieden ihre Eltern, dauerhaft in Deutschland zu bleiben und ihre Kinder nachzuholen. Zorlu musste sich von ihrem Dorf verabschieden – diesmal für immer. „Die Trennung von meinen Großeltern war am schwierigsten. Ich hatte lange Zeit noch Sehnsucht nach Farac.“

Kofferkinder

In den 60er- und 70er-Jahren gab es rund 700 000 sogenannte „Kofferkinder“. Ihre Eltern waren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, um Geld für die Familie zu verdienen, die Kinder ließen sie in der Heimat zurück.

Viele Kinder besuchten ihre Eltern in Deutschland nur alle paar Jahre – sie pendelten zwischen den Kulturen. Erst 1964 wurde der Familiennachzug erlaubt. Als die Bundesregierung im Jahr 1973 einen Anwerbestopp verhängte, befanden sich zwischen 500 000 und 750 000 türkische Gastarbeiter in Deutschland.

Sie wurden vor die Wahl gestellt, entweder dauerhaft in die Türkei zurückzukehren oder aber in Deutschland zu bleiben. Die meisten entschieden sich fürs Bleiben. Und holten ihre Kofferkinder endgültig nach Deutschland.

In Eitorf ging Sevim Zorlu auf die Hauptschule, machte dort ihren Abschluss. Später fand sie eine Anstellung in einer Textilfabrik. Sie heiratete früh, bekam ihr erstes von drei Kindern. In der Textilfabrik war sie nicht glücklich, dort fühlte sie sich eingeengt, nutzlos. Den ganzen Tag hatte sie das Rattern der Maschine im Ohr. „Die Fabrikarbeit macht dich stumpf“, sagt sie heute. Zwölf Jahre lang hielt sie es aus, dann war es genug. „Ich hatte schon immer Träume von einem besseren Leben, ich wollte etwas Eigenes machen, selbstständig sein.“ Also pachtete sie mit ihrem Mann den weißen Kastenbau, einen ehemaligen Getränkemarkt. Sie stellte ein paar Apfelkisten in die Halle und eröffnete 1994, mit 28 Jahren, ihren Gemüseladen.

Das mit dem Malen kam viel später, irgendwie begann sie spontan. „Ich brauchte einen Ausgleich zu meinem Laden, also kaufte ich mir Farben und fing einfach an“, sagt Sevim Zorlu. Sie malt mit Öl- und Acrylfarben, ungegenständlich und farbenfroh. Zorlu selbst kann nicht genau beschreiben, warum sie so malt oder wie ihre Bilder entstehen.

„Ich mache es einfach.“ Das sagt sie oft, wenn man sie fragt, warum die Dinge in ihrem Leben so und nicht anders gelaufen sind. Sie macht. So wurde Sevim Zorlu zu der Frau, wie man sie heute in Eitorf kennt: Kofferkind, Gemüsehändlerin und Künstlerin.

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