Nach 16 Knochenbrüchen79-jähriger Extremsportler will zum Ironman nach Hawaii

Lesezeit 7 Minuten
20170912max-schrader08

Schrader beim Lauftraining

Troisdorf – Als der Troisdorfer Georg von Schrader vor fünf Jahren die Ironman-Weltmeisterschaft auf Hawaii gewonnen hatte, ließ er seine Rennmaschine  auf der Insel. Als Sieger in der Altersklasse der 75- bis 79-Jährigen war er qualifiziert fürs kommende Jahr, es war keine Frage, dass er wiederkommt. „Der Sport ist meine Art zu leben, ich will so auch der letzten Grenze begegnen, über die wir alle gehen müssen“, hat er ein paar Wochen nach dem Rennen gesagt. Noch mit 80 einen Ironman zu schaffen, das sei eine Grenze, das wäre interessant. Sein Rad wartet bis heute auf der Insel.

Ende Februar 2013 bricht sich der Ausdauersportler bei einem Radunfall 16 Knochen. Es ist die zweite Ausfahrt im Trainingslager durch die Geröllwüste Fuerteventuras, Schrader guckt auf seine Kette, dann setzt die Erinnerung aus. Er findet sich im Krankenhaus wieder. Neun Rippen sind zertrümmert, die Schulter, das Handgelenk, beide Schlüsselbeine, er hat Prellungen, Quetschungen und – wie sich  schnell herausstellt – Wasser in der Lunge. Mehr als zwei Liter werden punktiert.

Dass auch ein Knochenstück an der Schulter abgesplittert ist und eine Sehne mitgerissen hat, wird ein Spezialist Wochen später feststellen. Für von Schrader sind Unfälle und Sportverletzungen nichts Besonderes. Bevor er 2012 Weltmeister auf Hawaii wurde, hatte er sich beim Ironman in Regensburg das Handgelenk gebrochen und ein Muskelbündel im Oberschenkel gerissen.  Er hatte das Rennen trotzdem beendet. In den Wochen vor Fuerteventura hatte ihn öfters Schwindel überfallen; er weiß nicht, ob Schwindel den Sturz verursacht hat, vielleicht, sagt er, es ist ihm nicht wichtig. Schwindel, Erkältungen, Bänderdehnungen und ähnliche Lappalien haben ihn nie abgehalten. Erkältungen hat er im Training „rausgeschwitzt“. Er hat bei jedem seiner 40 Ironman-Triathlons „gefinisht“, wie die Athleten sagen.

Fit wie ein Mann Ende 50

Sportärzte der Kölner Sporthochschule berichten, dass sie  kaum einen Sportler mit höherer Schmerztoleranz kennen als ihn. Sportphysiologisch ist Schrader, der im November 80 Jahre alt wird, einerseits auf dem Stand eines End-Fünfzigers, andererseits ist er längst ein Wrack: Der Knorpel ist abgenutzt, Arthrose hat sich in den Gelenken eingenistet, Muskelfaserrisse und Bündelrisse sind nicht richtig verheilt. Es gibt Menschen, die deswegen täglich starke Schmerzmittel schlucken und sich gar nicht mehr bewegen.  Georg von Schrader nimmt nie Schmerzmittel, er wüsste nicht, wie das gehen sollte – zu leben, ohne sich zu bewegen: „Damit beschäftige ich mich erst, wenn es so weit ist.“

20170912max-schrader17

Georg von Schrader beim Training im Rotter See.

Nach zwei Tagen im Krankenhaus auf Fuerteventura  schafft er es, allein auf die Toilette zu gehen. Als er nach Deutschland transportiert  wird, um die nächsten zwei Monate in einem Troisdorfer Krankenhaus zu verbringen und mehrmals operiert zu werden, fängt er am ersten Tag an, zu trainieren. Er marschiert das Treppenhaus rauf und runter, fünf Stockwerke. Als die Kraft zurückkehrt, nimmt er immer zwei Stufen. „Ich wollte wieder auf die Beine, so geht es mir nach jeder Verletzung“, sagt er. „Also habe ich probiert, was geht, und mir einen Plan gemacht.“

Schwimmtraining bei 17 Grad

Es ist ein kühler Nachmittag Mitte September, als er in Badehose am Rotter See in Troisdorf-Sieglar steht und erzählt. Der See ist auf 17 Grad abgekühlt, von Schrader schwimmt ohne Neoprenanzug, „aber nicht mehr stundenlang, früher hat mir das nichts ausgemacht, aber ich spüre das Alter, mir wird schneller kalt“. Sein Bizeps ist wieder prall, der Bauch flach. Wenn er sich erinnert, wie er wieder beweglicher wurde, von den ersten Schwimm- und Laufeinheiten, weiten sich seine wachen Augen. Georg von Schrader  redet dann wie ein Mensch trinken würde, der bei einem Marathon nicht getrunken hat: gierig nach jedem Wort, gierig, so lange er von Bewegung redet.

Nach den Operationen und den Monaten im Krankenhaus geht wenig. Er kann den Arm nicht in die Horizontale heben, nicht laufen, geschweige denn schwimmen, aber mit dem Damenrad seiner Frau zum Einkaufen fahren, eher eiern, das geht zehn Wochen nach dem Unfall wieder. Er geht auch wieder ins Schwimmbad, ohne kraulen zu können, bei jedem Zug fährt ein Stich in die Schulter.

Er hat viele Kilo Muskelmasse verloren; sie wieder aufzubauen ist mühsam für einen 75-Jährigen. „Die Müdigkeit, die Widerstände gegen das Training, auch die Schmerzen werden größer mit dem Alter, und erst recht nach einer  schweren Verletzung“, sagt er. Von Schrader hat in der Folge oft keine Lust zum Training. Und macht es trotzdem. Obwohl beim Radfahren und schnellem Atmen der Brustkorb schmerzt, beim Laufen jeder Knochen, obwohl  es nicht mit jeder Woche besser geht, sondern oft schlechter. 2014 ist an einen Ironman nicht zu denken, 2015 und 2016 auch nicht. Im Schwimmbad überholen ihn gleichaltrige Hobbysportler. Die Ausfahrten und Joggingeinheiten bleiben eher kurz. Er macht weiter.

Sein Held ist Sisyphos

Als Kind ist er kränklich und gilt als leicht zurückgeblieben, zweimal wiederholt er das erste Schuljahr. Später wird er Lehrer, bei der Marine ist er der schnellste 5000-Meter-Läufer. So fängt es an.

Schraders Held ist Sisyphos. „Irgendwann“, sagt er, „kommt jeder zur letzten Schwelle und wird scheitern.“ Bis dahin wolle er den Stein immer wieder hochrollen. „Für mich ist das ein ganz logisches Lebensprinzip. Und keines, das mich depressiv macht, eher stoisch.“ Beim Akt des Steinerollens – in  seinem Fall Schwimmen, Radfahren und Laufen – fühlt sich Georg von Schrader lebendig und selbstbestimmt.

Selbstbestimmt zu leben, war ihm immer wichtig. Er hat meist getan, was er wollte. Er ist mit dem Rad zwei Jahre durch China gefahren, er war als Lehrer in Südamerika und als Dolmetscher bei Olympischen Spielen. Im Moment gibt er Flüchtlingen Deutschunterricht, einem bringt er das Schwimmen bei. „Ich finde es sinnvoll, Dinge weiterzugeben, die man kann“, sagt er, „aber im Mittelpunkt sollte die eigene Bewegung stehen.“

Viele Menschen in seinem Alter leben längst nicht mehr selbstbestimmt. Das liegt nicht selten daran, dass sie sich ein Leben lang zu wenig bewegt haben. Studien der Kölner Sporthochschule belegen, dass Menschen über 80 Jahre nach acht Wochen ihre Beinkraft verdoppeln können. Gleichzeitig vermindert regelmäßiger Sport das Risiko von Gedächtnisverlust. Ausdauer, Koordination, Kraft und Flexibilität lassen sich sehr gut trainieren. Wer regelmäßig Sport macht, wird nicht unbedingt älter, stirbt aber gesünder – und lebt viele Jahre länger selbstbestimmt.

Georg von Schrader hat Ausdauer- und Kraftwerte eines 25 Jahre jüngeren Mannes. „Beim Sport existiert Alter für mich nicht“, sagt er. So sieht er auch aus, wenn er darüber redet: hell und zuversichtlich wie ein Jüngling.

In diesem Jahr steigert er die Trainingsumfänge wieder, er will auf Hawaii in der Altersklasse der 80- bis 85-Jährigen antreten, im vergangenen Jahr hat keiner der über 80-Jährigen dort das Ziel erreicht. Georg von Schrader muss sich für die WM qualifizieren, er meldet für den Ironman in Maastricht am 5. August. Das Schwimmen in der Maas klappt gut, nach einer Stunde und 37 Minuten steigt er aus dem Wasser. 23 Minuten langsamer als bei seinem WM-Sieg vor fünf Jahren, aber eben auch 16 Knochenbrüche und drei Operationen später. Die 180 Kilometer auf dem Rad spult er stoisch ab, sieben Stunden 43 Minuten; für ihn ist das viel, aber er hat in seiner Altersklasse keine Konkurrenz und kann sich Zeit lassen.

Er stürzt und schleppt sich weiter

Beim Marathon sticht schon auf den ersten Kilometern ein Schmerz in den Rücken. Von Schrader ist mit einem Muskelfaserriss im Lendenwirbelbereich gestartet. Könnte schmerzhaft werden, hatten die Ärzte gesagt, sei aber kein Risiko. Die Schmerzen verstärken sich, bei Kilometer 20 kann er seinen Oberkörper nicht mehr halten, er kippt nach vorn. Es ist ein Bild, das er von vielen Wettkämpfen kennt: alte Männer mit gebeugtem Oberkörper, die sich weiterschleppen. Er schleppt sich also weiter, stürzt, rappelt sich auf, stürzt wieder, schlägt mit dem Kopf aufs Pflaster auf, geht weiter. Um Mitternacht erreicht er das Ziel, blutverkrustet und gebeugt, eine Helferin hängt ihm eine Finisher-Medaille um, die Melodie ertönt, wie bei jedem, der das Ziel erreicht.

Georg von Schrader ist in letzter Minute ins Ziel getaumelt, man bietet ihm an, ihn ins Krankenhaus zu fahren, er nickt;  es ist nichts Ernstes, sagen die Ärzte. Als er am nächsten Tag in die Ergebnislisten schaut, findet er seinen Namen nicht. NF steht dort für „not finished“, nicht beendet. Er kam eine Minute  zu spät. Er hat das Ergebnis nicht angefochten. „Ich kann nicht mal sagen, dass es mich geärgert hat“, sagt  Schrader. „Ich war ja verletzt und weiß jetzt, dass ich es noch drauf habe.“

Sein „Geheimplan“ sei  nun, beim Ironman im November auf Malaysia zu starten. Wenn der Rücken  zu sehr schmerzt, will er im Dezember in Australien starten. Er möchte sich für die WM 2018 qualifizieren. Seine Rennmaschine wartet noch auf Hawaii.  

KStA abonnieren