„Kinderleben im Veedel“Mit zehn Jahren noch nie den Dom gesehen

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Kinder, auf sich allein gestellt, zwischen den Hochhäusern entlang der Brüsseler Straße in Finkenberg

Kinder, auf sich allein gestellt, zwischen den Hochhäusern entlang der Brüsseler Straße in Finkenberg

Köln – Vor dem Ende der Herbstferien graut es Shania (Name geändert) schon jetzt. Wird sie in der Schule nach ihrem schönsten Ferienerlebnis gefragt, zuckt sie mit den Schultern. Die Achtjährige war noch nie mit ihren Eltern in Urlaub, sagt ihre Freundin. Shania selbst schweigt.

Sie kommt selten weiter als bis zum Roten Platz. Nicht den in Moskau freilich. Den in Finkenberg. Die Farbe, die seinen Asphalt einst zierte, ist längst verblasst. Vom Augenschein her erinnert er eher an einen Gefängnissportplatz. Sein Betreten ist laut Schild verboten. Er ist marode, doch nahezu alternativlos.

„Es gibt hier kaum freie Flächen zum Spielen“, bedauert Marco Morschel, Sozialraumkoordinator für Finkenberg im Auftrag der Diakonie Michaelshoven. Städtebaulich sei da „schwer was zu machen“. Keine einzige Wohnung ist hier in städtischem Eigentum, es gibt mit dem Stresemannpark nur eine städtische Grünfläche.

So steht und fällt die Qualität des Zusammenlebens mit den privaten Eigentümern der Großwohnanlagen. Pflegen sie diese und achten auf eine gute Mischung unter ihren Mietern, entspannt sich die Stimmung. Wenn nicht, brodelt es. „Nicht jeder hat das Glück, die GAG in seinem Veedel zu haben“, sagt Morschel in Anspielung auf die vom Rat beschlossene Übernahme von 1200 zwangsverwalteten Wohnungen in der Trabantenstadt links des Rheins.

Elf Sozialräume in Köln

Finkenberg ist einer von elf Sozialräumen in Köln. So oder neuerdings „Lebenswerte Veedel“ nennt sie die Stadtverwaltung. Vieles gelingt hier. Was misslingt, macht Schlagzeilen. Der Anteil armer Familien ist extrem hoch. Doch ihre Kinder sind oft hier geboren. Der Stadtteil hat eine Integrationskraft, wie sie viele Nicht-Sozialräume brauchen könnten. Die Menschen wissen sich selbst und untereinander zu helfen, weil der Armut hier niemand aus dem Weg gehen kann.

In Deutschland muss niemand verhungern. Dennoch haben Kinder Hunger. Es gibt punktuelle Vergünstigungen wie den Köln-Pass oder das Bildungspaket. Und doch besuchen arme Kinder seltener ein Gymnasium. Bedürftige erhalten nach dem Sozialgesetzbuch II zusätzlich zu ihrem oft – und immer öfter – zu geringen Einkommen aufstockend ALG II. Oder sie leben ausschließlich davon. Dann beträgt der Regelsatz 399 Euro als Erwachsener, 234 bis 302 Euro als Kind oder Jugendlicher im selben Haushalt. Zusätzlich werden Miete und Heizung, zumindest teilweise („angemessen“), erstattet.

Der Rote Platz ist nunmehr nur noch grau.

Der Rote Platz ist nunmehr nur noch grau.

Für Kinder bedeutet Armut aber mehr als nur Geldmangel. „Sie bedeutet massive Benachteiligung im Bildungs- und Freizeitbereich“, so der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge. Kinder können nicht oder nur bedingt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. „Beengte Wohnverhältnisse und fehlende Rückzugsräume führen zudem dazu, dass vielen die Möglichkeit fehlt, ihre Hausaufgaben ungestört zu machen, sich zu erholen und Kontakte zu knüpfen.“

Obwohl sich mit den sozialen Initiativen vor Ort und der neuen Verwaltung eines Großteils der Hochhäuser in Finkenberg schon vieles verbessert habe, wie Morschel auch lobt, deutet er bei unserem Rundgang durch das Quartier besorgt auf die Stelle, wo die jüngste Razzia stattfand: Mitten im Zentrum lieferten sich Großfamilien vor sechs Wochen eine Schießerei, nur ein paar Schritte von dem Ladenlokal entfernt, in dem bis vor kurzem noch das örtliche Jugendzentrum OT Arche Noah war, bevor es auf den Kirchenhügel zog.

Morschel kämpft für das Image des Stadtteils, den er einen „Ankommens-Stadtteil“ nennt. Einen Hafen der Stadt, in dem täglich neue Menschen anlanden und wieder ablegen. „Wer kann, zieht hier weg“, sagt Morschel über die große Fluktuation.

Ein Grund sei die große Zahl an Osteuropäern. „Die Familien leben mit zu vielen Menschen in zu kleinen Wohnungen.“ Trotzdem oder gerade deshalb: Morschel will nicht woanders arbeiten. „Ich bin gerne hier im Veedel, die Leute gefallen mir“, sagt der Familienvater. „95 Prozent sind sehr anständig und nett.“ Es gebe eine große Gruppe russischer Bildungsbürger und „die größte ungarische Community“ stadtweit. „Sie sind sehr gut integriert und sprechen sehr gut Deutsch.“ Er versucht aber auch, Ansprechpartner für die übrigen fünf Prozent zu sein.

Isolation und Resignation

80 Prozent aller Finkenberger haben Migrationshintergrund, bei den unter 18-Jährigen sogar 90 Prozent. „Sie sind zwei- bis dreimal so häufig von Armut betroffen wie einheimische Kinder“, so Butterwegge. In der Gruppe der unter 15-Jährigen leben 57,2 Prozent in SGB-II-Haushalten.

Sie leiden häufiger an psychosomatischen und chronischen Krankheiten, Angstzuständen und Stimmungsschwankungen. Weitere Folgen seien Isolation und Resignation, die sich häufig vererben. Armut deutlich senken könnten nur andere Bundes- und Landesgesetze. Doch der Forscher nennt zwei Ansätze, wie sie vorerst vor Ort zumindest gemildert werden könnte: „Wieso muss das Essen in einer Kita oder Schule extra kosten und kann nicht allen, wie in Skandinavien, zur Verfügung gestellt werden?“ Weiter fordert er „mehr kostenlose Kulturangebote“.

Auf dem Platz der Kulturen, wo die Schießerei stattfand

Auf dem Platz der Kulturen, wo die Schießerei stattfand

Marco Morschel berichtet von Kindern, deren Eltern den symbolischen Anteil von zwei Euro für einen Ausflug nicht zahlen können. Von Kindern, die bei zehn Grad Celsius und Nieselregen in Sommersandalen vor ihm stehen. Und dem Sommer-Camp, bei dem die Kinder so ausgehungert waren, dass selbst die doppelte Anzahl Portionen Essen nicht ausreichte. „Das macht traurig und wütend.“

Nachdenklich stimmte ihn der Kinobesuch im Linksrheinischen, der ihm vor Augen führte, wie sehr Armut Kinder ins Abseits stellt. „Zehnjährige sind an dem Tag das erste Mal in ihrem Leben Rolltreppe gefahren. Ein anderer hatte noch nie den Dom gesehen.“ Die Aktion „wir helfen“ fördert Projekte, die dem entgegenwirken.

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