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Häusliche Gewalt"Der Papa haut die Mama"

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Wie Kinder leiden: Ein Junge hält sich die Ohren zu, während seine Eltern streiten

Wie Kinder leiden: Ein Junge hält sich die Ohren zu, während seine Eltern streiten

Köln – Die Wohnung glich einer Trümmerlandschaft. Die Vitrine war zerstört, der Fernseher ebenso. Stühle müssen durch den Flur geflogen sein. Mehrere Gardinen und Rollos waren heruntergerissen. Sogar die Lampen im Kinderzimmer, Matratzen, Türen und viele Spielsachen zerstört.

Als Elsa und Tolga (Namen geändert), fünf und acht Jahre alt, nach dem jüngsten Gewaltausbruch ihres Vaters mit ihrer Mutter in das Beratungszentrum „Der Wendepunkt“ der Diakonie Michaelshoven in Kalk kamen, war ihr Zuhause nicht mehr bewohnbar. Doch sie hatten weit mehr als ihr Mobiliar verloren, sagt Cigdem Özgüzel, Diplom-Pädagogin und Beraterin des Projekts Kinderintervention der Diakonie Michaelshoven. Seit zwölf Jahren arbeitet sie in der Gewaltschutzberatung und findet dank ihrer türkischen Wurzeln sehr guten Zugang zu Familien mit türkischem Migrationshintergrund. Egal welcher Herkunft ein Junge oder Mädchen ist: „Das Miterleben von Gewalt traumatisiert Kinder.“

Schlaflos vor Angst

Elsa und Tolga waren verängstigt. Schon das Knallen einer Tür durch den Wind ließ sie zusammenzucken. „Sie hatten ihr Urvertrauen verloren.“ Erst nach mehreren Wochen Beratung wurden sie ruhiger und begannen zu erzählen. „Papa sagt, ich soll keine Angst haben. Aber wenn er Mama schlägt habe ich Angst“, sagte Tolga. Elsa gestand, oft „die ganze Nacht wach zu sein, um auf Mama aufzupassen“. Sie selbst „wolle niemals heiraten“. Beide dürsteten nach Aufmerksamkeit und Zuwendung. Wesentlich für ihre Stabilisierung war die Reparatur ihres Zuhauses – zumindest in materieller Hinsicht. Ihnen fehlten Schreibtische, Betten, Vorhänge. Doch größere Neuanschaffungen oder Transporte konnte ihre Mutter nicht finanzieren. „Sie nahm zu der Zeit an einer Umschulung teil und lebte mit ihren Kindern von ALG II.“ Mithilfe der „Herzkammer“ , einem Spendenlager der Diakonie Michaelshoven, konnte Özgüzel Möbel und Spiele für die Kinder finden und transportieren lassen. „Erst damit war für die Kinder auch seelisch eine Aufarbeitung möglich.“

Im Laufe der Beratung zeigte sich zudem, dass die Mutter ihren Kindern keine Freizeitaktivitäten finanzieren konnte. Tolga sprach davon, wie gerne er einen Fußballverein besuchen würde. Elsa wollte Gitarre lernen. Erfahrungsberichte von Traumaexperten belegen laut Özgüzel, dass Kinder mit mehr sozialen Kontakten Traumata besser überwinden könnten. Die Beraterin beantragte daher mit der Mutter Bildungsscheine und zusätzliche finanzielle Mittel über Stiftungen, so dass die Wünsche der Kinder erfüllt werden konnten.

Elsa und Tolga haben sich mittlerweile von dem Erlebten erholt. Die Kinderberatung konnte nach fünf Monaten beendet werden. Das zusätzliche Coaching der Mutter hat dazu beigetragen, dass diese ihre Umschulung nicht abgebrochen, sondern erfolgreich beendet und sich stabilisiert hat. „Sie hat ihren Abschluss gemacht und so die Möglichkeit, eine Arbeit zu suchen.“ Der Ehemann und Vater hat den Kontakt abgebrochen.

Aus Opfern werden oft Täter

Häusliche Gewalt ist seit Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes 2002 mehr ins Bewusstsein gerückt. Kinder als Mitbetroffene wurden jedoch lange vernachlässigt und werden es teils immer noch. Dabei sind neben der Beratungsarbeit auch präventive und kreative Angebote wichtig. Sie können von Trägern oft nur mit Spendenmitteln wie etwa von „wir helfen“ verwirklicht werden.

Das Miterleben von Gewalt hat enorme Folgen für die seelische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehören starker Leistungsabfall, zunehmende Aggressivität, deutlicher Rückzug oder Depressionen. Die Fähigkeit Konflikte zu lösen sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zum Lernen nehmen ab.

Aus Loyalität zu den Eltern vertrauen sich Kinder oft zu spät anderen an. So entstehen Isolation und Stigmatisierung. Je länger diese andauern, desto schwieriger sind sie aufzulösen. Oft wiederholen sich Opfer- oder Täterrollen in den eigenen späteren Beziehungen.

2015 beriet die Diakonie in 749 Fällen von häuslicher Gewalt, darunter 439 Familien mit 761 Kindern. 58 Prozent der beratenen Frauen hatten eine Zuwanderungsgeschichte, darunter 30 Prozent türkische Wurzeln. Die Kinder- und Jugendberatung ist unter ☎ 0221/99564444 erreichbar.

www.diakonie-michaelshoven.de

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