KinderpsychologieWenn Kinder treten, beißen, schlagen

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Projekt Achtung Kinderseele__Goyert

Kinder- und Jugendpsychologe Stefan Battel berät im Rahmen des Projekts "Achtung Kinderseele!" Kitas in Brennpunkten.

Köln – Wenn Naima (4, Name geändert) im Kindergarten einen Schmetterling sieht, Sirenen hört oder eine kleine Staubwolke beobachtet, bekommt das Mädchen panische Angst. Dann klammert sie sich an eine Erzieherin, die ihr nahe steht und weint. Manchmal wird sie so wütend, dass sie mit dem Kopf gegen die Wand schlägt. „Sie beißt, sie schlägt, sie tritt Erzieher und andere Kinder“, sagte die Leiterin  der SKM-Kita am Kurt-Weil-Weg in Bocklemünd, Martina Krebs. Das Team steht vor einem Rätsel: „Wir wissen nicht, was das Mädchen erlebt hat und was sie uns mitteilen will.“

Gerd Lehmkuhl ist Vater des Projekts

Ein Fall also für Stefan Battel, den Hürther Kinder- und Jugendpsychologen und -therapeuten, der die Kita im Rahmen des Projekts Achtung Kinderseele! betreut. Das Projekt, das vor sechs Jahren von Gerd Lehmkuhl, dem ehemaligen Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln gegründet wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Pädagogen in Kindertagesstätten zu unterstützen. Battel betreut nicht die Kinder und Familien direkt, sondern unterstützt als Kita-Pate die Erzieher bei ihrer Arbeit.

20 Prozent der deutschen Kinder sind psychisch auffällig

Der  Bedarf ist groß. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind 20 Prozent der Kinder in Deutschland psychisch auffällig und zehn Prozent benötigen eine psychologische Therapie. Bis 2020 erwartet das RKI einen Anstieg der Fälle um 50 Prozent. Manche der Kinder werden aggressiv, manche hyperaktiv. Andere ziehen sich in sich zurück, wieder andere entwickeln Zwangshandlungen, laufen etwa ohne erkennbaren Grund immer wieder um einen Tisch herum. Woran liegt das? Zerbröselnde Familien seien ein Grund – immerhin wird jede zweite Ehe in Deutschland geschieden – und der wachsende Druck in der Schule, der durch das verkürzte Abitur nochmals gestiegen sei, sagt Battel.

In Bocklemünd gelten 46 Prozent der Kinder als arm

Aber auch die Armut spielt eine Rolle: In Bocklemünd liegt die Arbeitslosigkeit bei 16 Prozent, 31 Prozent der Menschen beziehen Hartz IV, 46 Prozent der Kinder gelten als arm. Auch bei Naima treffen einige der Risikofaktoren, die Kinder aus der Bahn werfen, zu, lässt sich Battel bei  seinem Gespräch mit dem Kita-Team erzählen. Das Kind stammt aus einer Flüchtlingsfamilie, lebt in einem Heim, wo es selten ruhig zugeht und es genug Platz für alle Kinder gibt. Die alleinerziehende Mutter hat kein Geld, um Naima Spielsachen zu kaufen oder ihr sonst etwas zu bieten, um von den Dingen abzulenken, die Mutter und Kind vermutlich erlebt haben.

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Beratung am runden Tisch in der SKM-Kita in Bocklemünd

Naima kam mit dem Boot über das Mittelmeer

Krebs weiß immerhin, dass es die Familie mit einem der berüchtigten Flüchtlingsboote über das Mittelmeer nach Lampedusa und später nach Deutschland geschafft hat. Traumatisierte, erläutert Battel in einem Vortrag, können sich oft selbst nur fragmentarisch an die schrecklichen Ereignisse erinnern. Andererseits brechen sich die Erinnerungen Bahn, wenn bestimmte Bilder, Gerüche oder Emotionen in den Alltag eindringen. Dann reagieren die Traumatisierten oft mit Wut oder Trauer, mit Panikattacken oder sozialer Isolation, mit Vermeidungsverhalten oder Schlafstörungen. Mit den Rückblenden erinnern sie sich an bestimmte Situationen, in denen sie nicht nur überfordert, sondern auch völlig machtlos waren. Die Auslöser sehen für Außenstehende meist harmlos aus. Wer weiß aber schon, was Naima mit dem Bild einer Staubwolke verbindet.

Hat Naima etwa Traumatisches erlebt?

Was Naima gesehen hat, will Battel in den kommenden Wochen herausbekommen. Dazu will er ihre Mutter kennenlernen, die Kita wird für das Treffen einen Dolmetscher besorgen, weil die Mutter kaum Deutsch,    aber Englisch spricht. Aber es werden wohl mehrere Termine nötig sein, um das Trauma aufzuarbeiten. Wichtig, so viel kann man jetzt schon sagen, ist für das Kind eine stabile Tagesstruktur in der Kindertagesstätte, eine enge Bindung zur Mutter, und dass es darauf vertrauen kann, dass die Erzieher die Dinge im Griff haben, den Kindern Regeln setzen und sie liebe- und respektvoll behandeln. Die Stiftung Achtung Kinderseele würde gerne künftig das Netz aus Fachleuten, die Erziehern in Kitas unterstützen, ausbauen. Derzeit gibt es nur 13 Psychologen in NRW, die wie Battel ehrenamtlich Hilfe leisten. Das Projekt wird von drei bundesweit agierenden psychologischen Fachgesellschaften unterstützt. Weitere Informationen gibt es im Internet. www.achtung-kinderseele.org

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