Stiftung Offroad KidsViele jugendliche Kölner fallen durch das System

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Junge Wohnungslose auf der Treppe am Bahnhofsvorplatz

Junge Wohnungslose auf der Treppe am Bahnhofsvorplatz

Köln – Er war wie eine Zeitbombe, die immer lauter tickte. Der 15-jährige Sohn einer Prostituierten und eines Zuhälters war nie gewollt. Er wurde schon in jungen Jahren missbraucht und haute schließlich ab. Die Straße sollte ihn abhärten. Dort prügelte ein falscher Mentor auf ihn ein, wenn er weinte. Stundenlang. Bis er beschloss zurückzuschlagen – und zum jüngsten Zuhälter Kölns wurde. „Er hatte mehrere Frauen hier für sich laufen.“ So schildert Colin Emde einen seiner ersten Fälle als Leiter der Kölner Streetwork-Station der Stiftung Off Road Kids. „Im Suff schlug der traumatisierte Junge schließlich einen Kumpel, nur weil der ebenfalls weinte, mit einem Stein in einer Kiesgrube beinah tot.“ Heute lebt der junge Mann fast normal und geht immer noch zur Therapie.

Seit elf Jahren geht die bundesweit arbeitende Hilfsorganisation für Straßenkinder, Ausreißer und obdachlose junge Volljährige in Deutschland auch in Köln auf die Straße, um junge Menschen von derselben zu holen. Mit Büro- und Beratungsräumen am Neumarkt hat sie seither für mehr als 800 Jugendliche neue Perspektiven und Bleiben erkämpft. Straßensozialarbeit gab es damals in Köln nicht. Am Teufelsbrunnen – so nannten Obdachlose den Dionysos-Brunnen, als er sich noch unterhalb der Domplatte am Museum befand – trafen die Pädagogen auf große Gruppen junger Obdachloser, die nicht vom Jugendamt betreut wurden. Regengeschützt, kaum einsehbar und mit Wasser zum Zähneputzen. „Für sie gab es damals keine aktive Ansprache“, so Emde. So ging die Hilfsorganisation mit Streetworkern zu den Szene-Treffpunkten.

Begleitung zu den Behörden

Heute helfen vier hauptamtliche Mitarbeiter – eng vernetzt mit vielen anderen Trägern – bedürftigen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 27 Jahren in akuter Not oder mit fehlendem familiären Halt. Sie füllen mit ihnen Anträge auf Arbeitslosengeld aus und klären andere Leistungsansprüche, etwa gegenüber dem Jugendamt. „Jeden behördlichen Schritt müssen wir begleiten, weil die sonst nirgendwo ankommen.“ Nicht zuletzt bieten sie ihren Klienten ein Postfach und kriegen damit den „verschriftlichten Ärger“ wie Verfahren wegen Schwarzfahrens oder Schulden mit.

Abgesehen davon soll ihnen das Leben auf der Straße auf keinen Fall erleichtert werden. So gibt es bei den Off Road Kids weder Mittagstisch noch Kleiderkammer. „Um diese Magnetwirkung, dieses Freiheits- und Underdog-Gefühl, das diese Gruppen für Jugendliche auch attraktiv macht, nicht auch noch zu füttern.“ Schritt für Schritt holen die Streetworker die Jugendlichen von der Straße, für die das auch ein Stück Verlust bedeutet.

Lücken in der Jugendhilfe

Dabei offenbaren sich für die erfahrenen Streetworker eklatante Lücken in der Jugendhilfe beim Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter. In einer von der Vodafone-Stiftung geförderten Studie des Deutschen Jugendinstituts ist vom Phänomen „entkoppelter Jugendlicher“ die Rede, die mit Erreichen der Volljährigkeit aus dem behördlichen System herausfallen, das an der Stelle über keine geeignete Brücke verfüge. Wird der Betreute volljährig, ende häufig die Zuständigkeit des Jugendamtes. Den Betroffenen werde teilweise mitten in der Ausbildung oder vor dem Abi plötzlich jede Unterstützung verwehrt, „nur weil sie 18 geworden sind“. Von heute auf morgen muss der scheinbar Erwachsene plötzlich allein nicht mehr ins bekannte Amt, sondern zum Jobcenter. Stoßen sie dort auf Unverständnis oder fühlen sich schneller bevormundet als andere, schmeiße mancher alles wieder hin. „Viele haben nie gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen, obwohl sie schon viele Stationen der Jugendhilfe hinter sich haben.“ In einem Fall trafen die Streetworker auf einen Jungen, der 13 verschiedene Maßnahmen durchlaufen hatte – und doch wieder auf der Straße landete. Die Sozialbürokratie sei zu stark standardisiert, die Ämter personell nicht stark genug ausgestattet. „Der dringend nötige Beziehungsaufbau gelingt nicht, weil eine zu große Fluktuation in der Betreuungsstruktur herrscht. Es gibt zu wenige Ressourcen, um wirklich Hilfe zu leisten.“

Die Zahl der ganz jungen Hilfsbedürftigen sei zurückgegangen. Dafür ist die Arbeit an anderen Stellen schwieriger geworden. War die Klientel früher mit einem geschulten Auge leicht zu erkennen war, spricht Emde heute von einer zunehmenden „verdeckten Obdachlosigkeit“. Junge Wohnungslose, vor allem 18 bis 25 Jahre alt, die geduscht und gepflegt anzutreffen sind und Nacht für Nacht bei einem anderen Bekannten unterkommen. „Wir nennen sie Couch-Hopper.“

Flexible Lernprogramme gefordert

Zudem werde der Zugang zu berufsorientierten Tages- und Abendschulen, an denen sie ihren Schulabschluss nachholen können, immer enger. Nur wer aktuell beschäftigt ist oder mindestens ein halbes Jahr berufstätig war, kann sich auf einen Schulplatz bewerben. „Früher konnten sich arbeitslose junge Erwachsene einfach auf der Schule anmelden.“ Auch seien Klassengrößen und Lerngeschwindigkeit hier für die jungen Obdachlosen, von denen viele in ihrer Entwicklung verzögert seien, zu hoch. Emde plädiert für den Einsatz eines therapeutischen Lernprogramms namens „Flex-Fernschule NRW“. Im liegt ein heilpädagogisches Förderkonzept zugrunde, das Fernunterricht ähnelt. Das Unterrichtsmaterial kommt per Post oder Mail und es gibt Lernbegleiter, die auch telefonisch erreichbar sind. Damit könne die Zielgruppe eher zum Abschluss geführt werden.

Auch der hart umkämpfte Markt für bezahlbaren Wohnraum bereitet dem Diplom-Sozialpädagogen Kopfzerbrechen. „Daran hängt alles. Doch der soziale Wohnungsbau wurde in Köln zu lange vernachlässigt“, sagt der 41-Jährige. Bei Besichtigungsterminen mit bis zu 40 Interessenten scheide seine Klientel ohne Bürgschaft und mit negativer Schufa-Auskunft häufig als erste aus. Damit werde einerseits der Druck in den betreuten Jugendwohnheimen extrem verschärft – wenn das jeweils zuständige Bezirksjugendamt solch einer Unterbringung überhaupt zustimme, was stark vom persönlichen Ermessen des Sachbearbeiters und Amtsleiters abhänge. In Einzelfällen müssten sie dafür vor dem Verwaltungsgericht streiten, so Emde.

Ungeeignete Unterkünfte

Müssen die jungen Leute hingegen ordnungsbehördlich durch die Stadt untergebracht werden, landeten sie oft in für sie ungeeigneten Unterkünften mit sehr viel älteren Obdachlosen, was wieder zum Absturz führen könne. Bis zu sechs Personen, die die Stadt schnell unterbringen muss, leben auf einem Zimmer in den alten Pensionen oder Hotels. Emde: „Da könnte ich auch nicht lernen.“

Notschlafstellen kämen für Schüler und Auszubildende ebenfalls nicht infrage, da diese über die Jobcenter finanziert würden und damit nur SGB II-Beziehern offen stünden. So landeten auch Heranwachsende, die sich bereits auf einem guten Weg befinden, wieder in dem Strudel aus Lethargie, Depression und Perspektivlosigkeit, den derartige Orte häufig ausstrahlten. „Köln braucht eine Notschlafstelle nur für junge Obdachlose, die sich in Ausbildung, Schule oder Arbeit befinden, wo sie viel mehr Ansprache und Begleitung finden als es in den normalen Notunterkünften der Stadt der Fall sein kann“, fordert er.

200 Kölner Kinder und Jugendliche vermisst

Schätzungsweise 21 000 Minderjährige in Deutschland zu den „entkoppelten Jugendlichen“ gezählt werden, sich also weder in Schule oder Ausbildung befinden. Davon gelten etwa 8500 Minderjährige als wohnungslos.

Bei der Polizei Köln galten vergangenen Monat 218 Personen als vermisst, 200 davon sind Kinder und Jugendliche. Jeder zehnte war Ende Mai immer noch vermisst. Dazu zählen auch „Dauerausreißer“, die immer wieder von zu Hause oder aus Jugendwohnheimen abhauen. Bei nicht ausreichender Jugendhilfe werden die gesellschaftlichen Folgekosten durch damit einhergehenden Suchtmittelkonsum, Delinquenz oder Arbeitslosigkeit mit werden dreimal höher geschätzt als die für intensivere Jugendhilfe. (kaz)

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