Rückblick 1997 Teil 1: Geschichte der Colonia Dignidad beginnt in Siegburg

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Siegburg - Ein Zeltlager in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Ländliche Idylle in Windeck, an der Grenze des Rhein-Sieg-Kreises. Das Essen ist angebrannt. Die Jungen in dem Lager müssen es trotzdem essen. Andere Nahrung ist bei Strafe verboten. So will es der Leiter des Zeltlagers. Einer hält es nicht aus. Der Junge ißt ein Stück Fallobst. "Er mußte sich nackt ausziehen, wurde von den Lagerältesten an den Rand des Geländes geführt und mußte dann unter Stockschlägen Spießruten laufen", erinnert sich der 63jährige Troisdorfer Helmut Schulte. Der Leiter des Zeltlagers - damals vor rund 50 Jahren - war Paul Schäfer, Jugendpfleger der evangelischen Kirche. Es ist jener Paul Schäfer, der in den Jahren danach als menschenverachtender Sektenführer, Kinderschänder und Gründer der berüchtigten "Colonia Dignidad" in Chile bekannt wurde. Bislang gelang es der chilenischen Polizei nicht, den per Haftbefehl gesuchten 76jährigen zu fassen. 1949/50 wurde Paul Schäfer von der Kirche entlassen und begann als Laienprediger umherzuziehen. Er suchte Kontakt zu anderen Gemeinschaften. Schließlich traf er den Baptistenprediger Hugo Baar. Beide wurden ein Gespann: der einäugige Schäfer, an Figur klein und durch das Glasauge behindert, wird als eine charismatische Persönlichkeit beschrieben. Baar, ein wortgewandter Prediger, stand selbst bald ganz im Banne Schäfers. Beide verkündeten das Urchristentum. Als von Gott Gesandte kassierten sie einen Zehnten des Einkommens ihrer Anhänger. Die Pflicht zur intimen Beichte In Lohmar-Heide bauten sie ein Gemeinschaftshaus. Später erhielt die Sekte den Namen "Private Sociale Mission" - nach außen eine glückliche Gemeinschaft, die offiziell ein Jugendheim betrieb. Doch hinter den Mauern begann Schäfers Schreckensherrschaft. Seine Anhänger mußten familiäre Bindungen aufgeben. Ein freier Christ könne Gott besser dienen, predigte Schäfer. Wie schon in seinen Jugendgruppen, mußten auch hier seine Anhänger intimste Beichten ablegen. Der Sektenführer Paul Schäfer verlangte von seinen Anhängern sexuelle Askese, der Päderast Paul Schäfer mißbrauchte kleine Jungen. Die Sekte zeigte sich früh geschäftstüchtig. Es wurden Lebensmittelgeschäfte gegründet. Die Mitglieder der Sekte mußten hart arbeiten. Lohn bekamen sie keinen. Als 1961 zwei Fälle sexuellen Mißbrauchs bekannt wurden und Polizei und Bonner Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurden, türmte Schäfer nach Chile. Seine mehr als 200 Anhänger - die meisten aus Gronau und Siegburg - folgten in den nächsten Monaten. Er versprach ihnen ein urchristliches Leben im gelobten Land und warnte vor einer russischen Invasion in Deutschland. Das Haus in Heide wurde an die Bundesregierung verkauft. Erlös: 900 000 Mark. Schäfer erwarb eine heruntergekommene Farm in der Nähe der Stadt Parral, 350 Kilometer südlich von Santiago. Er nannte sie "Colonia Dignidad"- Kolonie der Würde. Eine Farm als Festung Den chilenischen Behörden erklärten die Siedler, sie wollten sich in landwirtschaftlicher Atmosphäre um chilenische Waisenkinder kümmern. In der "Colonia Dignidad" perfektionierte Schäfer alles, was er in Lohmar an Unterdrückungsmechanismen geschaffen hatte. Die Menschen mußten 16 Stunden arbeiten. Es gab Frauen-, Männer- und Kinderhäuser. Privatgespräche waren untersagt. Harte Strafen drohten. Jeder konnte ein Spitzel sein. Noch heute sind die Umstände ähnlich. Das Lager gleicht einer Festung. Wenige Jahre nach der Gründung war die "Colonia Dignidad" zu einem landwirtschaftlichen Mustergut von rund 15 000 Hektar herangewachsen. Die deutschen Siedler bauten Brücken und Straßen. gründeten eine Gold- und eine Titanmine. Schon früh wurde ein Krankenhaus eröffnet, das Aushängeschild der Kolonie. Die arme Bevölkerung wird kostenlos behandelt. Bezahlen müssen die Kinder der chilenischen Bauern. Den Jungen wird im Internat der "Colonia Dignidad" Essen und Ausbildung geboten. Nehmen die Eltern das Angebot an, landen die hübschesten Jungs in Schäfers Bett 1966 flohen die ersten beiden Deutschen aus der Kolonie. Sie berichteten von Zwangsarbeit und Kindesmißbrauch. Niemand glaubte ihnen. Einer von ihnen war Wolfgang Müller, heule heißt er Wolfgang Kneese. Schon im vermeintlichen Waisenhaus in Lohmar war er von Paul Schäfer vergewaltigt worden, der ihn 1961 mit nach Chile nahm. 1966 glückte Kneese - beim dritten Versuch - die Flucht. Dazwischen wurde er geschlagen, eingesperrt, mit Medikamenten betäubt. "Daß mir nachher niemand glaubte, war die Strafe Nummer Zwei", erinnert sich Kneese. Wie sein Mitstreiter Heinz Kühn (siehe Interview nächste Seite) kämpft Wolfgang Kneese gegen Paul Schäfer und die "Colonia Dignidad". Die 1966 von Wolfgang Kneese erhobenen Vorwürfe verklangen schnell. Er verlor seine Prozesse gegen Schäfer. Kneese beschreibt Schäfer "Er ist ein Mann, der durch seine sexuellen Methoden Kindern die Seele raubt, einen Schaden für das ganze Leben anrichtet, und im nächsten Atemzug geht dieser Mann hin und begrüßt Politiker." Gerade deutsche Politiker hatte Schäfer häufig auf seiner Seite - trotz aller Gerüchte um die "Colonia Dignidad". Besonders CSU-Anhänger besuchten die Siedlung gern. Die Politiker waren begeistert von dem "deutschen Mustergut". Nach dem Exodus der Sekte waren in Siegburg nur einige Getreue um Hugo Baar zurückgeblieben. Sie trugen die "Private Sociale Mission" 1968 als Verein ein. Baar kümmerte sich um die "Schaak und Kuhn OHG", die die Geschäfte abwickelte. Erst im Dezember 1989 wurde der letzte Laden geschlossen. Die "Private Sociale Mission" sammelte Altkleider und schickte sie mit zahlreichen anderen Gütern nach Chile. Darunter sollen auch Waffen gewesen sein. Maschinengewehre und Pistolen habe er für die Sekte besorgt, gestand Hugo Baar. Im Siegburger Vereinsregister der "Privaten Socialen Mission" findet sich auch ein Eintrag des umstrittenen Arztes und Sektensprechers Dr. Hartmut Hopp. Er war 1986 stellvertretender Vorsitzender des Siegburger Vereins, der erst 1995 abgemeldet wurde. Nach dem Putsch des chilenischen Diktators Augusto Pinochet wurde ab 1973 ein grausames Kapitel in das Schreckensbuch der "Colonia Dignidad" geschrieben. Die Siedlung diente offenkundig dem Geheimdienst DINA bis 1990 als Folterzentrum. Auch diese schon 1977 von "amnesty international" erhobenen Vorwürfe verhallten damals folgenlos. Daß nicht nur chilenische Oppositionelle gefoltert wurden, um sie zum Reden zu bringen, sondern auch Kinder, um ihnen sexuelle Empfindungen auszutreiben, berichtete das Ehepaar Lotti und Georg Packmor. Beide flohen 1985 aus der Kolonie. Lotti Packmor sagte aus: "Die Kinder mußten sich abends nackt auf die Betten legen. Bewegte sich in sexueller Hinsicht etwas, wurde das Kind mit elektrischen Viehtreibern bearbeitet. Auch an den Hoden. Ich habe es erlebt, daß die Jungen Injektionen in die Hoden bekamen. Die schwollen dann an und sollten so wohl ausgeschaltet werden." Mit Ende der Diktatur in Chile wurden die Vorwürfe gegen Schäfer und die "Colonia Dignidad" wieder lauter. Die Unterstützerfront Paul Schäfers begann bröckeln. 1991 erkannte die demokratische Regierung unter Patricio Aylwin der Kolonie die Privilegien als Steuer- und zollbefreite Wohlfahrtseinrichtung ab. Die Folge: Die "Colonia Dignidad" wurde formell geschlossen. Die Anwälte der Kolonie reagierten schnell. Das Millionenvermögen der deutschen Siedlung wurde rechtzeitig auf Aktiengesellschaften übertragen. Die "Colonia Dignidad" wurde in "Villa Bavaria" umbenannt. Es folgten Prozesse. An den Zuständen in der Kolonie änderte dies alles nichts. Erst als 1996 die Mutter eines zwölfjährigen chilenischen Jungen Anzeige gegen Paul Schäfer wegen sexuellen Mißbrauchs ihres Kindes erstattete, wurde ein Haftbefehl ausgestellt. Weitere Anzeigen folgten im Frühjahr 1997. Die Sexualverbrechen an fünf Kindern sind aufgrund von Narben an ihren Körpern einwandfrei dokumentiert. Ende Juli 1997 gelang dem 24jährigen Tobias Müller und dem 18jährigen Chilenen Zaio Luna die Flucht aus der "Colonia Dignidad". Seine Mutter hatte ihn mit zehn Jahren nach Chile geschickt. Jeden Tag zu Diensten sein Von seinen Erfahrungen mit dem Sektenführer Schäfer berichtete Tobias Müller im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". "Jeden Tag mußten ein kleiner und ein älterer Junge ihm zu Diensten sein... Ich kam nichtsahnend hin und mußte gleich unter die Dusche. Schäfer kam mit und seifte mich am ganzen Körper ein. Dann schlüpfte er auch noch zu mir unter die Bettdecke... Viel ist in dieser Nacht nicht passiert.. Bei den nächsten Diensten hat er mich - wie auch alle anderen - vergewaltigt." 14 Jahre dauerte das Martyrium von Tobias Müller, das auch viele andere durchleben mußten. "Die Erinnerung daran ist, als ob jemand deine Seele über ein Nagelbrett zieht", sagt Wolfgang Kneese. 31 Jahre nach seiner eigenen Flucht aus der "Colonia Dignidad" hofft er, daß jetzt dem jahrzehntelangen Treiben des Paul Schäfer ein Ende gesetzt wird. Welche Greueltaten dann noch ans Licht der Öffentlichkeit kommen, ist ungewiß.

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