Schach-Großmeister Jörg Hickl„Magnus Carlsen ist einzigartig“

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Duell um den WM-Titel: Weltmeister Anand (l.) und Herausforderer Carlsen in Chennai, Indien.

Duell um den WM-Titel: Weltmeister Anand (l.) und Herausforderer Carlsen in Chennai, Indien.

Köln/Chennai – Herr Hickl, Sie haben fast 20 Jahre lang in der deutschen Schach-Nationalmannschaft gespielt und sind 1998 deutscher Meister gewesen. Was muss man mitbringen, um – wie jetzt bei der Weltmeisterschaft in Indien – gegen den seit 2007 amtierenden Weltmeister Viswanathan Anand bestehen zu können?

Jörg Hickl: Erst mal muss man für so ein Turnier unglaublich fit sein. Es reicht nicht, ein grandioser Spieler mit guter Konzentrationsgabe zu sein. Wenn man körperlich zu schwach ist, bricht man in der dritten oder vierten Stunde weg und macht Fehler. Der Kalorienverbrauch der Spieler bei einer Schachpartie ist der gleiche wie bei einem Fußballspiel, nur dass Schachspieler bei einem normalen Turnier neun Tage hintereinander ranmüssen – das schlaucht.

Dann sollte Magnus Carlsen ja die besten Chancen haben, denn er ist mit 22 Jahren bedeutend jünger als der 43-jährige Anand.

Hickl: Die ganze Schachwelt geht davon aus, dass Anand keine Chance hat. Seine errechnete Gewinnchance beträgt 35 Prozent.

Was glauben Sie?

Jörg Hickl, geboren am 16. April 1965 in Wiesbaden, ist seit 1988 internationaler Großmeister im Schach und spielte nahezu einhundert Mal für die deutsche Nationalmannschaft. Neben diversen Deutschen Mannschaftsmeistertiteln gewann er 1998 die Deutsche Einzelmeisterschaft. In den letzten Jahren widmet er sich verstärkt der Organisation von Schachreisen und dem Training von Vereinsspielern.

www.schachreisen.eu

Hickl: Ich glaube zwar, man unterschätzt Anand gewaltig, weil auch die Erfahrung eine ganz entscheidende Rolle bei solch einem Match spielt. Durch den gestrigen ersten Sieg von Carlsen muss ich aber zugeben, dass sich dessen Favoritenrolle bestätigt. Es wird für Anand jetzt sehr schwer, das Match noch herumzureißen.

Aber nach all den Remis bisher hat Magnus Carlsen jetzt doch erst eine Partie gewonnen …

Hickl: Das Problem ist, dass der Schachbund die Spiele um den WM-Titel so dramatisch gekürzt hat. Dadurch hat der erste, der eine Partie gewinnt, einen gewaltigen Vorteil. Unter solch einem Zeitdruck und mit dem Wissen, dass die ganze Welt gegen dich wettet, ordentliche Entscheidungen zu treffen ist psychisch schwer zu meistern. Anand hat sich bisher auch noch selten in einer Situation befunden, wo sein Gegner derart haushoch favorisiert war.

Magnus Carlsen wird als Wunderkind des Schachs gehandelt, viele sagen, es sei schwer, sich auf ihn vorzubereiten. Was macht sein Schachspiel denn aus?

Hickl: Carlsen in eine bestimmte Kategorie abzulegen ist deshalb so schwer, weil er ein absoluter Allrounder ist, dessen Schach von sehr viel Leichtigkeit geprägt wird. Der Mann setzt sich ans Brett, spielt und bringt eine konstante Leistung; er hat aus meiner Sicht eigentlich keine richtigen Schwächen. Wie eine Maschine!

Aber er ist nicht dieser Schach-Revolutionär, den viele in ihm sehen?

Hickl: Carlsen revolutioniert das Schach nicht. Im Hochsprung kann es eine neue Sprungtechnik geben – im Schach hingegen ist es sehr schwierig, die Ursache des Erfolges zu ermitteln. Der Mann ist einzigartig, doch die ganze Partie durchblicken kann auch er nicht. Auffallend bei Carlsen ist lediglich die Abkehr vom durch Datenbanksysteme gestützten eröffnungslastigen Spiel. Es steht nicht mehr unbedingt die Vorbereitung im Fokus, sondern es wird wieder mehr am Brett gearbeitet. Aber bitte nicht vergessen: Schach gewinnt man nicht nur durch brillantes Spiel. Worum es geht, ist Fehlerfreiheit – und das ist für den Menschen kaum möglich, vor allem, wenn Zeitdruck ins Spiel kommt. Da reicht es schon mal, wenn man letzte Nacht schlecht geschlafen hat.

Viswanathan Anand, geboren am 11. Dezember 1969 in Ma-dras, wurde 2007 der erste asiatische Weltmeister der Schach-Geschichte (Russland zählt sportlich gesehen zu Europa). 1988 erhielt er den Großmeisterstatus, derzeit belegt Anand den vierten Platz der Weltrangliste. Seine aktuelle Elo-Zahl beträgt 2775. Der Inder ist bekannt für seine rasche Auffassungsgabe und gilt als sehr schneller, intuitiver Gegner.

Anand hat den Vorteil, in seinem Heimatland zu spielen. In Indien hat Schach eine große Popularität, viele Besucher kommen zu den Partien. Warum springt dieser Funke nicht nach Deutschland über?

Hickl: Schach entwickelt sich in Deutschland massiv zurück. Wir haben eine starke Überalterung – ich glaube, etwa 25 Prozent sind älter als 60, was uns von anderen Sportarten unterscheidet. Es liegt an der mangelnden Vermarktung, wir führen ein Nischendasein.

Und in Indien ist das nicht so?

Hickl: Ich selbst habe zu meinen Zeiten im Spitzenschach mehrere Turniere in Indien gespielt. Als ich zum ersten Mal dorthin eingeladen wurde, kam ich durch einen Torbogen an der Spielstätte an – und plötzlich fing eine Blaskapelle an zu spielen. Auch ein roter Teppich lag dort, doch ich habe gar nicht realisiert, dass der für mich sein könnte, und bin zielstrebig daran vorbeigegangen. Da sehen Sie, wie unterschiedlich der Stellenwert in unseren beiden Ländern ist.

Da ist ein Magnus Carlsen doch nicht so verkehrt für den Sport. Er ist jung und könnte damit andere junge Leute begeistern, er modelt für eine niederländische Modemarke …

Hickl: Ja, er tritt in der Öffentlichkeit auf, das ist nicht verkehrt – allerdings hat er nicht das Charisma von Garri Kasparow damals. Der ging immer nach vorne, so eine Art Seelenfänger, ein absolut medialer Typ. Carlsen ist viel ruhiger.

Also braucht der Schach Repräsentanten?

Hickl: Na ja. In den asiatischen Ländern, wo Schach neben Russland am meisten boomt, sind Schachspieler zum Beispiel ganz häufig die Sportler des Jahres.

… anders als in Deutschland, wo man sich nicht mal einig ist, ob Schach überhaupt eine Sportart ist.

Magnus Carlsen, geboren am 30. November 1990 in Tensberg, gilt als Wunderkind der heutigen Schachwelt. Der Norweger ist die aktuelle Nummer eins der Weltrangliste, seine Elo-Zahl im Februar 2013 war mit 2872 Punkten die höchste in der Geschichte. Alle drei Großmeisternormen erreichte er 2004 innerhalb von vier Monaten . Er ist der jüngste Schachspieler, der jemals die Spitzenposition der Weltrangliste erreichte.

Hickl: Da streiten sich übrigens auch die Schachspieler drum! Wir haben dazu eine ambivalente Meinung, denn eigentlich sind wir alles: Wissenschaft, Kultur, und ja, natürlich auch Sportler. Das Ziel der Funktionäre ist natürlich, als Sportart an andere Fördertöpfe zu kommen. Es gibt Bestrebungen, Schach in die Reihe der olympischen Disziplinen aufnehmen zu lassen – mit der Folge, dass wir uns seit einigen Jahren den Dopingkontrollen unterwerfen müssen.

Aha, wie dopt man denn als Schachspieler?

Hickl: Tja, das wüssten wir auch gern. Ich bin ganz sicher: Wenn man als Schachspieler mehr Elo-Punkte bekommen könnte, indem man sich eine Spritze setzt, würden es viele von uns tun. Aber wie denn? Mit Kaffee vielleicht? Für viele ältere Spieler bringt das Thema echte Probleme: Sobald sie Betablocker oder Ähnliches nehmen, sind sie ja ruckzuck gefährdet – egal, ob es etwas bringt oder nicht.

Man sagt, für Schach sei eine unglaubliche Gedächtnisleistung nötig. Anand sagte unserer Zeitung nach der WM 2008 in Bonn, er habe 90 Prozent aller Partien seines Gegners Wladimir Kramnik auswendig nachspielen können.

Hickl: Ja, Anand hat ein sehr gutes Gedächtnis, aber viel wichtiger ist, glaube ich, dass er früher eine unglaubliche Rechenmaschine war. Es gab Partien, für die normale Spieler zwei Stunden brauchen, die er in zehn Minuten durchgespielt hat. Das ist beeindruckend!

Sie haben selbst gegen ihn gespielt.

Der Norweger Magnus Carlsen hat am Freitag in Chennai im fünften von maximal zwölf WM-Spielen gegen Titelverteidiger Viswanathan Anand nach vier Remis den ersten Sieg gefeiert und führt 3:2. Anand, der mit Schwarz spielte, gab nach dem 58. Zug auf. Zum Titelgewinn sind 6,5 Punkte nötig. Das Preisgeld beträgt 2,5 Millionen Dollar. Alle Informationen und Live-Streams finden Sie unter:

http://chennai2013.fide.com

Hickl: Ja, das war eine sehr interessante Partie im Jahr 1988. Anand ging als Favorit ins Turnier, und es gab nur noch drei Spieler, die Chancen auf den ersten Platz hatten: Er, der damalige kolumbianische Großmeister und ich. Für Anand war das ein unglaublich schlechtes Turnier: In fünf Zügen hat er gegen den Kolumbianer verloren. Gegen mich hat er gewonnen – sein einziger Sieg in diesem Turnier – was mich letztlich den ersten Platz gekostet hat. Hinterher kam er zu mir und sagte: »Jörg, ich muss mich bei dir entschuldigen.« Ich glaube, dieser ganze Tag war ihm sehr peinlich.

Was denken Sie? Ist der WM-Titel für ihn jetzt erledigt?

Hickl: Carlsen ist nicht unschlagbar. Und es wird niemand Weltmeister, der eine einzelne Niederlage nicht wegstecken kann. Aber wenn Anand eine zweite Partie verliert, hat er keine Chance mehr.

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