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Deutsche BahnAlte ICE haben Technikprobleme

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Juli 2008: In Köln entgleist ein ICE 3 nach dem Bruch einer Antriebswelle.

Juli 2008: In Köln entgleist ein ICE 3 nach dem Bruch einer Antriebswelle.

Berlin – Zugfahren im ICE kann richtig schön sein – wenn alles funktioniert. Leider bereiten viele der mehr als 260 Hightech-Flitzer der Bahn seit Jahren teure Probleme. Besonders die Radsätze sind anfällig, die durch das hohe Tempo ständig stark belastet werden. So endete am 20. Mai 2017 auch die Fahrt des ICE 695 von Berlin nach Stuttgart vorzeitig in Hildesheim. Alle Fahrgäste mussten umsteigen, manche erreichten ihr Ziel an jenem Samstag nicht mehr.

Ein Betroffener berichtet, der ICE 1 sei vor Hildesheim rund 15 Minuten sehr langsam gefahren, habe noch kleinere Bahnhöfe passiert und habe auf offener Strecke gestoppt. Nach der Durchsage, es gebe Probleme unter einem Mittelwagen, sei der Lokführer mit Werkzeug unter den Zug gekrochen. „Er klopfte dort eine Viertelstunde herum, Zugbegleiter mit Schutzwesten sicherten derweil die offene Tür mit einem Seil“, so der Fahrgast. „Das Ganze wirkte extrem absurd.“

Ungewöhnliche Geräusche

Die Bahn bestätigt den Vorfall. Es seien während der Fahrt „ungewöhnliche Laufgeräusche“ am Mittelwagen 5 aufgetreten, sagt Sprecher Jürgen Kornmann. Sicherheit habe oberste Priorität, der Zug sei deshalb in Hoheneggelsen zur Überprüfung angehalten worden. ICE-Triebfahrzeugführer seien im Bewerten von Mängeln geschult, das gelte besonders für Drehgestelle, Räder und deren Lager. Beim ICE 695 habe der Lokführer keine Schäden festgestellt.

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Dennoch wurde der Zug vorsorglich und langsamer nur noch bis Hildesheim gefahren. Am nächsten Tag sei er leer nach Hamburg ins Instandhaltungswerk gebracht und dort der Radsatz ersetzt worden. „An dem ausgebauten Radsatz wurde kein Mangel festgestellt“, sagt Kornmann. Der sichere Einsatz der Flotte sei gewährleistet. Beim Staatskonzern gilt das Thema als hochsensibel.

Zu Recht: Auch in der jüngeren Geschichte der Eisenbahn gab es wegen Unfällen nach Achs- und Radbrüchen viele Tote. 2009 starben in Viareggio (Italien) 32 Menschen, als ein Zug mit Gasbehältern mitten in der Stadt explodierte. Das schlimmste Bahnunglück in Deutschland, die Katastrophe von Eschede, wurde durch einen defekten Radreifen bei einem ICE 1 verursacht. Am 3. Juni 1998 entgleiste der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ zwischen Hannover und Hamburg. 101 Menschen starben, 88 wurden schwer verletzt.

Radsatz-Probleme beim ICE 3

Danach wurden zwar die Radsätze geändert. Doch auch das neue Modell ICE 3 machte bald Probleme. Im Sommer 2008 kam es auf der Tempo-300-Strecke zwischen Frankfurt und Köln zu einem vollständigen Bruch einer Antriebswelle, bei der später Materialmängel und Risse festgestellt wurden. Wie Untersuchungsberichte bewiesen, hatten Hunderte Fahrgäste des ICE 518 „Wolfsburg“ viel Glück, dass der Zug erst beim Richtungswechsel im Kölner Hauptbahnhof entgleiste.

Die Bahn behauptete damals, es gehe um einen Einzelfall und es gebe keine systemischen Probleme mit der Belastbarkeit der ICE-Radsätze. Eine Aussage, die sich als unrichtig erwies. Das Eisenbahnbundesamt (EBA) zog einen Teil der ICE-Flotte zeitweise aus dem Verkehr und ordnete bis zu fünfzehn Mal häufigere Achskontrollen an. Die DB stritt mit den Herstellern Siemens, Bombardier und Alstom jahrelang über Ursachen und Schadenersatz.

Austausch bis Ende 2017

Die Industrie gab letztlich nach. Mit großem Aufwand wurden neue Achsen für den ICE 3 und den Neigezug ICE T entwickelt. Der Austausch von rund 1200 Radsätzen allein bei 63 ICE 3 läuft noch immer. Die letzten Züge sollen erst Ende 2017 repariert sein, fast vier Jahre später als ehemals angekündigt. Bei den 67 ICE-T-Neigetechnikzügen, wo sogar 28 Radsätze pro Zug und damit fast 1900 Wellen ersetzt werden müssen, ist erst ein Viertel erledigt. Der Tausch werde noch bis 2019 dauern, erklärte der Konzern auf Nachfrage.

Die Probleme treffen seit Jahren auch die Bahnfahrer. Damit eine sichere Fahrt gewährleistet ist, müssen die Züge bis zum Achsentausch viel häufiger zur Kontrolle als früher und fehlen im laufenden Betrieb. Umso ärgerlicher für den Konzern, dass nun auch die betagten Radsätze der älteren ICE-Generationen auffällig werden, die bisher als dauerfest galten. Wie Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zeigen, gibt es vermehrt Risse an den Bremshohlwellen der Triebköpfe des ICE 1 und 2. Der Konzern habe deshalb im August 2015 das EBA informiert, dass man sich „zur Umsetzung von Sofortmaßnahmen“ bei den Baureihen 401 und 402 entschlossen habe, teilte die Aufsichtsbehörde auf Anfrage mit.

Die „auffälligen Befunde“ seien bei Routinekontrollen festgestellt worden, so das EBA und die Bahn. Unfälle wegen der Mängel seien nicht bekannt, heißt es bei der Behörde. Bahnsprecher Kornmann betont mehrfach, es habe wegen der Hohlwellen keine Zwischenfälle im Betrieb und keine Auflagen des EBA gegeben. Durch geänderte Prüfintervalle sei die Sicherheit gewährleistet.

Bremshohlwellen ersetzen

Selbst Experten kannten die Probleme bisher nicht. Sehr geräuschlos wurde konzernintern der Aufsichtsrat informiert und der bis dahin nicht vorgesehene Austausch auch dieser Problemteile beschlossen. Erst auf Nachfrage bestätigt die Bahn, dass an allen Triebköpfen der 59 ICE 1 und der 44 ICE 2 die Bremshohlwellen ersetzt werden. Der Tausch habe begonnen und solle 2018 „im Wesentlichen abgeschlossen werden“. Damit würden zusätzliche aufwendige Kontrollen vermieden und „die Zuverlässigkeit der Antriebe sichergestellt“. Es geht nicht um Kleinigkeiten.

Die Lieferanten für die neuen Wellen suchte der Konzern voriges Jahr mit europaweiter Ausschreibung. Demnach sollen 540 Stück bis 2021 geliefert werden, 360 davon sofort. Auftragswert: 17,5 Millionen Euro netto. Anders als bei den ICE-3-Achsen will die Bahn keinen Schadenersatz von den Zugherstellern. Bei den betagten ICE 1 und ICE 2 sind Garantiefristen ohnehin abgelaufen.

Experte: Bahn hat gespart

Für Professor Markus Hecht von der TU Berlin sind die Probleme keine Überraschung. Die ersten ICE-Modelle seien für eine Laufzeit von rund 20 Jahren konzipiert gewesen, nun aber schon viel länger im Einsatz. Die hoch belasteten Wellen, die viele Millionen Kilometer gelaufen sind, seien im Rahmen der damaligen Vorgaben richtig dimensioniert gewesen, so der Fachgutachter. Bei der Modernisierung der älteren ICE-Züge vor einigen Jahren habe der Bahnkonzern gespart, kritisiert Hecht. Es seien nicht die sonst bei großen Revisionen üblichen umfangreichen Maßnahmen durchgeführt worden, um die Zuverlässigkeit der Züge zu erhöhen.

Zu Sorgen gibt es laut Hecht wegen der Probleme bei den Bremshohlwellen keinen Grund. „Kein ICE 1 oder 2 wird deshalb entgleisen.“ Zudem werde der ICE überwiegend elektrisch gebremst und nur selten mechanisch über die Bremsscheiben an den Hohlwellen (siehe Infokasten). Das größere Problem sei, dass die Verfügbarkeit der ICE-Flotte durch Kontrollen bis zum Austausch weiter eingeschränkt werde.

Den sicheren Betrieb sieht auch das Eisenbahnbundesamt durch die verkürzten Prüfintervalle bis zum Austausch der betagten Bauteile gewährleistet. Über die weitere Entwicklung will die Behörde gleichwohl auf dem Laufenden gehalten werden.

So wird ein ICE angetrieben und gebremst

Die ICE-Antriebe sind komplexe Konstruktionen. Bei den Triebköpfen des ICE 1 und 2 sind die Radsatzwellen von Antriebshohlwellen umgeben, diese wiederum von Bremshohlwellen. Diese drei Wellen sind über seitliche Kardanantriebe verbunden. Die Motorkraft wird mittels Zahnrädern übertragen. Die ICE 1 und 2 werden so weit möglich elektrisch von den Triebköpfen gebremst. Die mechanischen Bremsen der Triebköpfe, deren Bremsscheiben auf den Bremshohlwellen sitzen, werden nur selten genutzt. Zusätzlich wird der Zug über Scheibenbremsen an den ICE-Wagenachsen gebremst.

Beim ICE 3 ist der Antrieb erstmals über die gesamte Zuglänge verteilt. Ein Teil der Radsätze unter den Wagen wird von Elektromotoren angetrieben. Die Konstruktion der Radsätze für die hohen Geschwindigkeiten und Belastungen des ICE-Verkehrs ist nach einigen Unfällen unter Experten strittig. Der französische TGV und Japans Shinkansen haben deutlich stärkere Achsen. Der erfahrene Achsenexperte Vatroslav Grubisic warnt seit vielen Jahren, die Belastungen der Wellen und Räder bei hohem Tempo seien viel größer als in der Wissenschaft und bei den technischen Vorgaben angenommen wurde.

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