Erschossener Mieter in KölnTod mit Ansage – Das Ende eines gescheiterten Lebens
Köln – Wie ein Mahnmal stand ein paar Tage lang da, wo das Leben von Louzef B. am Morgen des 3. August endete, ein Xylophon. In dem engen Hausflur der vierten Etage einer Ostheimer Hochhaussiedlung, wo Polizeischüsse den 48-Jährigen tödlich treffen, war das Instrument eines seiner letzten Überbleibsel.
Dahinter steht die noch versiegelte Tür zu seinem Apartment, das er an jenem Mittwochmorgen nicht lebend verlassen sollte. Was sich hier vor genau zwei Wochen abspielte, ist wohl der tragische Endpunkt eines gescheiterten Lebens – und wirft zudem Fragen nach der Ohnmacht oder vielleicht sogar dem Versagen von Behörden auf.
Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen
Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen
Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter:
Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.
Telefonseelsorge
Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de
Kinder- und Jugendtelefon
Das Angebot des Vereins "Nummer gegen Kummer" richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams "Jugendliche beraten Jugendliche" die Gespräche an. nummergegenkummer.de.
Muslimisches Seelsorge-Telefon
Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch türkisch. mutes.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention
Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de
Beratung und Hilfe für Frauen
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützen werden Betroffene aller Nationalitäten rund um die Uhr anonym und kostenfrei unterstützt.
Psychische Gesundheit
Die Neurologen und Psychiater im Netz empfehlen ebenfalls, in akuten Situationen von Selbst- oder Fremdgefährdung sofort den Rettungsdienst unter 112 anzurufen. Darüber können sich von psychischen Krisen Betroffene unter der bundesweiten Nummer 116117 an den ärztlichen/psychiatrischen Bereitschaftsdienst wenden oder mit ihrem Hausarzt Kontakt aufnehmen. Außerdem gibt es in sehr vielen deutschen Kommunen psychologische Beratungsstellen.
Wer Freunde des Verstorbenen fragt, erhält das Bild eines Künstlers, dem sein Leben Stück für Stück entglitt. Louzef B., den sein Umfeld Josef oder Juzik nannte und vor 48 Jahren im russischen Sankt Petersburg geboren wurde, liebte die Musik. „Er hatte ein absolutes Gehör, konnte jeden Ton direkt erkennen“, sagt ein Freund dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Musik war schon immer sein Leben. Er hat nichts anderes im Kopf gehabt.“ Als junger Mann wollte B. 1995 nicht an die Front des ersten Tschetschenien-Kriegs und floh nach Köln.
Hier studierte der praktizierende Jude an der Musikhochschule im Kunibertsviertel, spielte Xylophon und Schlagzeug. Nebenher verdiente er seinen Lebensunterhalt jahrzehntelang durch Straßenmusik in der Innenstadt.
Alkohol machte Louzef B. große Probleme
Aber B. nahm nicht nur seine Liebe zur Musik mit nach Deutschland, sondern auch seine Alkoholsucht, wegen der er in Russland schon mehrmals behandelt wurde. Wodka, aber vor allem immense Mengen Bier zeigten das zweite Gesicht von Louzef B. Wie mehrere Freunde berichten, trank er sich mit Kölsch und osteuropäischem Bier oft in Zustände, die von dem friedlichen Straßenmusiker nichts mehr übrig ließen.
„Wenn er getrunken hat, war er ein anderer Mensch“, erzählt ein Freund, der B. seit mehr als 30 Jahren kennt. „Er konnte super umgänglich und kreativ sein. Aber auch böse, ätzend und unerträglich. Es ist, als hätten in Josef zwei unterschiedliche Charaktere geschlummert. Die Freundschaft hat im Grunde nur bestanden, als er trocken war.“
Zwischen 1998 und 2003 soll B. keinen Tropfen getrunken und sein Leben in den Griff bekommen haben. Danach folgte ein Rückfall auf den anderen, die zudem immer heftiger wurden. B. soll im betrunkenen Zustand immer wieder ausgerastet sein, geschrien, gepöbelt und seine Mitmenschen bedroht haben. Womöglich auch, weil er sich selbst bedroht gefühlt hat. „Er hatte Wahnvorstellungen und Albträume, fühlte sich verfolgt, wenn er getrunken hatte“, sagt ein anderer Freund. Immer wieder sei er in psychiatrischer Behandlung gewesen.
Wenn er zu Hause war, soll er die Nachbarn drangsaliert und schikaniert haben, wie diese berichten. Mehrmals war er demnach in seiner eigenen Wohnung so betrunken, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte, in sein geliebtes Aquarium stolperte und Wasserschäden verursachte. Die Nachbarn beschwerten sich daraufhin bei der Vermietergesellschaft.
Pandemie machte ihm das Leben schwer
Die Geschichte des Straßenmusikers Louzef B., dem die Kontrolle über sein Leben entglitt, ist aber auch eine Geschichte darüber, welche Folgen die Lockdowns in der Corona-Pandemie haben können. Weil die Fußgängerzonen zeitweise verwaist waren, nahm B. von heute auf morgen nichts mehr ein und verschuldete sich hoffnungslos.
„Corona hat ihm den letzten Schlag gegeben“, sagt ein weiterer Freund über ihn. B. habe sich auf einen „Selbstzerstörungskurs“ begeben, sei nicht nur dem Alkoholismus verfallen, sondern auch heftigen Depressionen. Zu allem Überfluss kamen Verletzungen in der Schulter und an der Hand dazu, die ihn lange Zeit für die Musik außer Gefecht setzten. All das ließ ihn am Sinn seines Lebens zweifeln, wie Freunde sich erinnern.
Dass er zwangsgeräumt werden und seine Wohnung aufgeben sollte, habe ihm endgültig die Zuversicht genommen. In eine städtische Obdachlosenunterkunft wollte B. nicht ziehen, weil er sein Aquarium und sein Xylophon nicht hätte mitnehmen können. Stattdessen äußerte er immer offensiver seinen Wunsch zu sterben – gegenüber Freunden, aber auch in sozialen Medien.
Sein Umfeld fing an, sich Sorgen zu machen. Einmal soll er seinen Suizid angekündigt und sich gegen die Polizisten mit Tritten gewehrt haben, die ihm helfen wollten. Dafür wurde er beim Amtsgericht angeklagt. Im November soll sich B. auf Facebook in russischer Sprache gewünscht haben, dass sich „jemand findet, der mich erschießt. Als Geschenk zum Geburtstag“. Was die meisten als Ausdruck von B.s bekannten schwarzen Humor interpretierten, klingt heute als Hilferuf, den niemand hören wollte.
Suizidgefahr war schon lange bekannt
„Alle hätten wissen können, dass er krank war“, sagt ein Freund und vermutet, dass B. an jenem Mittwoch nur tot aus seiner Wohnung gehen wollte. Dass er deshalb die tödlichen Schüsse provoziert haben könnte. Seit März 2004 waren der Stadt die psychischen Probleme bekannt, B. war seither fast Dauergast beim sozialpsychiatrischen Dienst. Außerdem hat B. einen Betreuer bekommen, der unter anderem bei Ämtern für ihn vorsprach.
Das Amtsgericht ordnete die Zwangsräumung an, nachdem die Wohnungsgesellschaft LEG den Mieter mehrfach aufgefordert hat, die gekündigte Wohnung zu verlassen. Die LEG war, wie es hieß, unter keinen Umständen bereit, das Mietverhältnis fortzusetzen. Mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen wollte sich die LEG zunächst nicht äußern.
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Weil B. als suizidgefährdet galt, wurde nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein erster Zwangsräumungstermin auf Betreiben des Betreuers zunächst abgesagt. So wie es oft juristische Praxis ist. Durch die Absage des Termins habe man „erstmalig von der Suizidgefährdung erfahren“, teilte die Stadt auf Anfrage mit. Daraufhin kam B. vorübergehend wieder in die LVR-Klinik nach Merheim, wurde dort therapiert und galt danach als nicht mehr suizidgefährdet. B.s Betreuer forderte dennoch eine nochmalige Vertagung der Zwangsräumung. Das Amtsgericht lehnte den Antrag ab.
Am Morgen des 3. August musste B. seine Wohnung schließlich doch räumen. An jenem Mittwoch klingelten zwei Polizisten in Zivil an seiner Wohnungstür, die Gerichtsvollzieherin hielt sicherheitshalber Abstand. Es dauerte nicht lange, bis die Lage eskalierte. Mutmaßlich stand B. unter Drogen- oder Alkoholeinfluss und war nicht Herr seiner Sinne. B soll mit einem Messer auf die Beamten losgegangen sein. Die setzten Pfefferspray ein, das B. unbeeindruckt ließ. Die Polizisten kündigten an, auf ihn zu schießen, falls er das Messer nicht ablegt. Als er auch das ignorierte, schoss ihm ein Beamter in die rechte Schulter, der andere in den linken Oberschenkel. Dabei wurde eine Hauptschlagader getroffen. B. verblutete noch vor Ort. Er hinterlässt einen 25-jährigen Sohn. Das Xylophon steht inzwischen nicht mehr im Hausflur. Was damit passierte, weiß niemand genau. Es soll, so heißt es, gestohlen worden sein.