„Es ist viel passiert, aber wir wissen wenig“, sagt der Frühmittelalter-Historiker Karl Ubl über die Kölner Geschichte zwischen 400 und 1100 nach Christus. Er muss es wissen, denn der gebürtige Wiener (!), der seit 2011 an Kölns Uni lehrt, hat ein Buch über dieses Thema geschrieben, das soeben im Greven-Verlag vorgestellt wurde.
Köln im FrühmittelalterDer schärfste Einschnitt in der Kölner Geschichte
Es handelt sich um den zweiten Band der 13-teiligen großangelegten Stadtgeschichte, die, von Werner Eck im Auftrag der Kölner Historischen Gesellschaft herausgegeben, allmählich auf die Zielgerade geht. Zwei Bände aus dem 20. Jahrhundert fehlen noch, aber in der Zeit davor klaffte, zwischen Ecks Band über das römische Köln und Hugo Stehkämper und Carl Dietmars Darstellung des hochmittelalterlichen Kölns, nur noch die Lücke, die Ubl jetzt geschlossen hat.
Unter dem Heumarkt liegt das Frühmittelalter
Mit einem Gesamtumfang von 513 Seiten hält sich der opulente, wie stets bibliophil ausgestattete und herausragend bebilderte Band umfanghalber in der Mitte der Geschwisterreihe. Aber mit sieben Jahrhunderten sprengt er bei weitem die Geschichtszeit aller übrigen Teile, inklusive des Römer-Buches. Klar, wenn man „wenig weiß“, schmelzen in der Darstellung auch große Zeiteinheiten zusammen.
Das geringe Wissen hat seine Ursache naheliegend im Fehlen von Quellen. Wobei sich die einschlägige Lage, wie Ubl betont, in den vergangenen Jahrzehnten verbessert hat – nicht durch die Entdeckung von Schriftlichem, das zwischen 400 und 800 nahezu vollständig fehlt, aber infolge von umfangreichen archäologischen Grabungen, die zahlreiche Erkenntnisse gezeitigt hätten: „Dicht unter dem Heumarkt zum Beispiel liegt das Frühmittelalter – da fand man Hinweise auch auf das Alltagsleben der Stadt, auf Glasherstellung und landwirtschaftliche Produktion.“
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Historiker Karl Ubl betont den Bruch mit der Antike
„Viel passiert“? Das kann man in der Tat so sagen. „Der schärfste Einschnitt in der Geschichte Kölns fand im fünften Jahrhundert statt“, schreibt Ubl in dem Kapitel „Der langsame Abschied von Rom“. Damit ist selbstredend der säkulare Umbruch der Herrschaftsverhältnisse am Rhein im Zuge der Völkerwanderung gemeint, die Ablösung des römischen Imperiums durch die germanischen Franken. Um 400 hieß Köln noch Agrippina, um 1100 dann „Koln“ – womit der ursprüngliche Stadttypus, eben der einer römischen Kolonie, zum Stadtnamen wurde. Seit dem 9. Jahrhundert wurde Köln „deutsch“ – auch im Sinn der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft, deren eindrucksvolles Zeugnis das in der Region entstandene frühmittelhochdeutsche Annolied ist. Und im Karolingerreich noch stark nach Westen orientiert, wandte die Stadt sich seit dem 10. Jahrhundert dem Osten zu – dem neu entstehenden deutschen Reich.
Während frühere Historiker die Kontinuität zwischen Römerzeit und Mittelalter betonten, akzentuiert Ubl wieder stärker den Bruch: Viele kulturelle Errungenschaften der Römer waren verloren gegangen, und Köln musste sich, wiewohl es auch in stürmischsten Zeiten nie entvölkert wurde und sich römische Grabinschriften bis ins 6. Jahrhundert hinein finden lassen, gleichsam neu erfinden.
Das tat es mit Nachdruck und Erfolg – durch die Etablierung eines spezifischen „Narrativs“, wie man heute sagen würde. Zu Beginn des neunten Jahrhunderts taucht, so Ubl, erstmals der Begriff „heilige Stadt Köln“ auf. Er wird dann – inklusive Heiligenkult (Ursula und die 11000 Jungfrauen) und Reliquienwesen – zu einem schier unschlagbaren Markenkern, Werbe- und Exportartikel, dessen Attraktivität erst in der Franzosenzeit an der Wende zum 19. Jahrhundert zugrunde geht. Dann läuft der Karneval der „Sancta Colonia“ den Rang ab.
Der Fußballverein des Mittelalters
„Man muss sich die Heiligenkulte daher“, so Ubl, „ein wenig so vorstellen wie heutige Fußballvereine: Sie boten Gesprächsstoff im Alltag, sie gaben mit ihren Kalendern dem Jahr eine Ordnung, und sie schufen Gemeinschaft durch Rituale und Prozessionen.“ Für den Historiker hat dieses Selbstverständnis einer Kommune allerdings auch wieder Nachteile: Die Quellen, so sie vorhanden sind, „geben kaum Auskunft über die „einfachen Bürger“, dafür umso mehr über die Bischöfe: „Das ganze Leben definierte sich über die kirchlich institutionalisierte Religion.“ In diesem Sinne wies bereits der Anfang des neunten Jahrhunderts von dem Bischof Hildebald ins Werk gesetzte und nach ihm benannte Dom Dimensionen auf, die sich vor seinem Nachfolger, der gotischen Kathedrale, keineswegs zu verstecken brauchten.
Der „Fußballverein“ leistet Übersetzungshilfe, aber selbstredend bleibt die Kölner Lebenswelt des Frühmittelalters für uns Heutige so oder so eine fremde, ferne Welt. Und es stellt sich die Frage, wie man ein interessantes und lebendiges Buch schreiben kann, wenn es kaum Quellen gibt. Diese Skepsis allerdings vermag Ubl – so viel wurde bei der Pressekonferenz deutlich – glänzend zu widerlegen: Das Buch ist, hier mag sich das Sprachtalent des Wieners einbringen, vital und farbig in der Darstellung, es verbindet, so Greven-Verlagsleiter Damian van Melis, empirischen Historikerfleiß mit glasklaren Leitfragen, Erkenntnisinteressen und Thesen. Dieses Frühmittelalter ist nicht langweilig, sondern faszinierend.
Karl Ubl: „Köln im Frühmittelalter. Die Entstehung einer heiligen Stadt 400 – 1100 (= Geschichte der Stadt Köln, Bd. 2), Greven Verlag, 513 Seiten, 60 Euro