Weltweite Krisen überschatten den Eurovision Song Contest in Malmö. Es gibt aber auch Zeichen der Hoffnung.
Massives PolizeiaufgebotDer ESC in Malmö – Kein bisschen Frieden
Sie solle, so riet der israelische Geheimdienst, nach Möglichkeit ihr Hotelzimmer nicht verlassen. Lebensgefahr. Und so saß die 20-jährige Sängerin Eden Golan, Vertreterin Israels beim Eurovision Song Contest, tagelang an einem geheimen Ort in Malmö, umgeben von Leibwächtern, umweht von Boykottaufrufen, Hassattacken, Drohungen. Nur zu Proben und Auftritten durfte sie ihren Security-Kokon verlassen. Flanieren, shoppen, feiern? Keine Chance.
Zu explosiv ist die Lage in Schweden. Zu groß der Zorn über den Gazakrieg. Tausende wollen am Samstag, am Tag des ESC-Finales, in Malmö gegen Israel demonstrieren: Muslime, Linke, Aktivisten. Auch mehr als eintausend schwedische Musiker forderten Israels Ausschluss vom Wettbewerb. Der nonbinäre Schweizer Mitfavorit Nemo sekundierte mit ESC-Kollegen aus Irland, Norwegen und Litauen: „Uns ist es wichtig, uns mit den Unterdrückten zu solidarisieren.“ Der britische ESC-Kandidat Olly Alexander beklagte einen „Genozid“ in Gaza. Alle gegen eine.
Ein paneuropäisches Friedensfest will der ESC sein, ein kollektives Atemholen in harten Zeiten. Diesmal aber scheint es, als liege ein schwefliger Grauschleier über dem Spektakel. Zu mächtig sind die dunklen Schatten, die aus der Außenwelt auf die grell blitzende Bühne in der Malmö Arena wabern.
„Krönt die Hexe“ statt „Freiheit“
Eine zentrale ESC-Party? Abgesagt. Die Vorfreude in der Stadt? Übersichtlich. Fast eingefroren wirkt Malmö im Vergleich zum letzten Song Contest in der Stadt, vor elf Jahren. ESC-Teilnehmer sagten reihenweise Auftritte im Rahmenprogramm ab, weil die antiisraelische Boykottbewegung BDS in sozialen Medien massiv Druck machte. Kein bisschen Frieden. Die wilde, als Manga-Hexe dekorierte irische ESC-Sängerin Bambie Thug musste gar nach dem Halbfinale auf Druck der Organisatoren die aufgeschminkten Tattoo-Wörter „Waffenstillstand“ und „Freiheit“ ändern. Nun steht auf ihrem Körper: „Krönt die Hexe“.
Schweden hat die Terrorwarnstufe schon vor dem ESC auf vier erhöht – die zweithöchste der Skala. Die Gefahr von Anschlägen durch Islamisten ist groß, auch weil es in Schweden immer wieder öffentliche Koranverbrennungen gibt. Ein Drittel aller Malmöer ist muslimisch. Den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 feierten Hunderte hier mit Feuerwerk, Hupkonzerten und Autokorsos.
In Rosengard zum Beispiel. Der Stadtteil, der nur vier Kilometer östlich des Malmöer Zentrums liegt, ist ein Betonmoloch aus den Sechzigern – das prototypische „Paralleluniversum“. 23.500 Menschen leben hier in Hochhäusern, 86 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Rosengard ist noch immer eine Welt für sich.
Hier wuchs der berühmteste Sohn der Stadt auf, Zlatan Ibrahimovic, Fußballsuperstar. Den Menschen von Rosengard hat er ein Zitat geschenkt: „Du kannst einen Jungen aus Rosengard herausholen“, sagte Ibrahimovic, „aber nie Rosengard aus einem Jungen.“ „Ich wurde groß in einem Land, das ich praktisch nicht kannte“, schrieb er in seiner Autobiografie. Er war 17 Jahre alt, als er zum ersten Mal die Innenstadt von Malmö sah. Es gibt diese Zlatans in Rosengard heute noch, auch wenn sich die soziale Lage verbessert hat.
Eine Maximalprovokation für die Feinde der offenen Gesellschaft
Mitten in diesem alles andere als problemfreien Malmö, in dem Menschen aus 186 Nationen leben, ist das bunt blickende ESC-Raumschiff gelandet – als Maximalprovokation für all jene, die ein offenes, freies, schwules, diverses, hedonistisches, tanzendes Europa bekämpfen. Die Stadt sei in der ESC-Woche „der Brennpunkt Europas“, warnt Christer Mattsson, Professor für Antisemitismusforschung in Göteborg. Man sei gut vorbereitet. Aber „etwas Unerwartetes kann es immer geben“. Malmös Polizei hat Einheiten aus dem ganzen Land angefordert, auch Norwegen und Dänemark helfen aus.
„Die Sicherheitsvorgaben sind absurd hoch“, sagt auch der deutsche ESC-Kandidat Isaak Guderian (29) aus Minden. Er geht mit seinem Midtemposong „Always on the Run“ ins Rennen.
Und hat wenig Verständnis für die Politisierung des Wettbewerbs und Vorwürfe, er helfe durch seine Teilnahme mit, Israel eine Bühne zu bieten („Habt ihr Lack gesoffen?“). Die massive Polizeipräsenz gebe ihm „kein absolutes Gefühl von Sicherheit“, sagt Isaak. Im Gegenteil.
Pop als Beruhigungsmittel ist defekt
Gewiss, sie haben 2168 Scheinwerfer unter die Decke der Arena geschraubt. Sie haben 1000 Quadratmeter LED-Videowand aufgestellt, dazu Nebel, Windmaschine, Laser, Feuerwerk. In der Stadt wehen ESC-Fahnen. Doch die Sehnsucht danach, mit den Mitteln des Entertainment für Momente der schrundigen Welt zu entfliehen, findet in Malmö keine rechte Erfüllung. Pop als linderndes Laudanum ist defekt – zerschellt an der Politik.
So heftig waren vor dem ESC die Angriffe gegen die israelische Sängerin, dass sich die Europäische Rundfunkunion (EBU) zu einem dringlichen Appell zur verbalen Abrüstung genötigt sah. Es handele sich beim ESC „nicht um einen Wettbewerb zwischen Regierungen“. Palästinensische Fahnen sind verboten, nur Flaggen der ESC-Nationen erlauben die Veranstalter – und die Regenbogenfahne.
In der Biografie der Israelin Golan kreuzen sich gleich drei aktuelle Krisenherde: Israel, Russland, die Ukraine. Sie selbst wurde 2003 nahe Tel Aviv geboren. Ihr Vater ist gebürtiger Lette, ihre Mutter Ukrainerin. 13 Jahre lang lebte sie in Russland, weil der Vater in Moskau arbeitete. Sie erlebte Anfeindungen, haderte mit der russischen „Mentalität, der Atmosphäre und all dem Grau“. Nach dem Überfall auf die Ukraine verließ die Familie Russland in Richtung Israel. Drei Versionen ihres ESC-Songs „Hurricane“ musste sie der EBU vorlegen, bis der Text „unpolitisch“ genug war.
Drohnen über der Arena
Natürlich ist Terrorangst Gift für ein Popereignis. Das war beim ESC 2019 in Tel Aviv ähnlich. Dort aber verschmolz die Sicherheitsarchitektur smart mit der Stadt, fielen die verborgenen Scharfschützen und 360-Grad-Kameras kaum auf, weil sie im von Feinden umgebenen Kleinstaat Israel zum Alltag gehören. In Malmö hingegen, ansonsten gern mal das „schwedische Miami“ genannt, schlagen die Polizisten mit Maschinengewehren massiv auf die Stimmung. Drohnen kreisen über der Arena. Es ist eine Party mit gebremstem Schaum.
No politics, please? Es ist doch nur Musik? Das ist natürlich naiv. Zu allen Zeiten spiegelten sich im ESC die Zeitläufte. Israel war 1973 das erste Land außerhalb Europas, das am Wettbewerb teilnahm. Der Kontinent war im Ausnahmezustand, damals: Sieben Monate zuvor hatten palästinensische Terroristen bei den Olympischen Spielen in München elf israelische Sportler getötet. Den ESC-Zuschauern im Theatre Municipal in Luxemburg war es verboten, von ihren Sitzen aufzustehen. Scharfschützengefahr. Die israelische Sängerin Ilanit stand unter Polizeischutz. Hingebungsvoll sang sie „Ey Sham“ (Irgendwo), erreichte Platz vier. Und soll auf der Bühne, so heißt es, eine schusssichere Weste unter ihrem bunten Poncho getragen haben.
Mittelfinger Richtung Moskau
Politik prägt den ESC bis heute. Die beiden vergangenen ESCs in Turin (2022) und Liverpool (2023) waren ein einziger ausgestreckter Mittelfinger in Richtung Moskau: Sieh her, Putin, wir feiern hier eine Party, und du bist nicht dabei (Russland und Belarus sind weiterhin suspendiert). Der Kontinent schloss die geschundene Ukraine fest in die Arme und feierte den Sieg des Kalush Orchestra mit „Stefania“ nicht nur wegen der Feinheiten der ukrainischen Tonsetzerkunst, sondern auch aus zornigem Trotz.
Die Ukraine wird diesmal von Rapperin Alyona Alyona und Sängerin Jerry Heil vertreten. Beide kämpfen tapfer dafür, dass der Überlebenskampf ihres Landes nicht aus dem Fokus gerät. „Wir müssen für die Welt sichtbar bleiben“, sagte das Duo in Malmö.
Ihre Female-Empowerment-Hymne „Teresa & Maria“, teils in Landessprache, feiert die Kraft von Mutter Teresa und der Jungfrau Maria – und gehört zu den Top-fünf-Favoriten des ESC.
Und doch gibt es jenseits der Krisen auch kleine Zeichen der Hoffnung, dass auch dieser ESC dazu beiträgt, ein paneuropäisches Selbstbewusstsein auszubilden, dass also das ESC-Motto „United by Music“ mehr sein könnte als PR-Heißluft. Nicht nur, dass die Delegationen Serbiens und Kroatiens 30 Jahre nach dem Kroatien-Krieg in Malmö die erste gemeinsame ESC-Party seit Langem feierten, wie der Blog „ESC kompakt“ erfreut notierte. Zu den Mitfavoriten 2024 gehört auch ein fröhlicher Derwisch aus den Niederlanden, der mit „Europapa“ eine grandiose Liebeshymne an den Kontinent im Gepäck hat.
Europa – mehr als Brüsseler Gurkenbürokratie
Joost Klein – in Deutschland 2023 mit Otto Waalkes’ „Friesenjung“-Sting-Cover in den Charts – trifft mit dem millionenfach geklickten Partysong knapp vier Wochen vor der Europawahl einen Nerv: Plötzlich erinnern sich Menschen von Polen bis Portugal daran, dass dieses gelegentlich sperrige Europa-Ding aus viel mehr besteht als Brüsseler Gurkenbürokratie. „Willkommen in Europa“, singt Klein – „ich bleibe hier, bis ich sterbe.“
Kleins „Europapa“ knüpft an den Geburtsmythos des ESC an, der ja kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedensprojekt erfunden worden war, um Länder, die sich soeben noch blutig bekriegt hatten, mit den Mitteln der Unterhaltung behutsam ins Gespräch zu bringen. Eine grandiose Idee – die für das zuletzt verheerend glücklose ESC-Kellerkind Deutschland noch nicht einmal besonders teuer ist: Gut 400.000 Euro zahlt die ARD pro Jahr für das ESC-Engagement. Ein einziger „Tatort“ kostet so viel wie drei dreistündige ESC-Liveshows. Nach einem deutschen Erfolgsabend sieht es freilich auch diesmal nicht aus. Die Buchmacher sehen Isaak im hinteren Drittel.
Wofür steht dieser Kontinent?
Und dennoch: Der ESC ist das einzige multinationale Druckventil für den spielerischen, kulturellen Datenabgleich für Hunderte Millionen Europäer (Und Australier. Und Israelis.). Gut 200 Millionen Menschen sehen auch diesmal eine wirkliche Euro-Vision. Denn jenseits der Windmaschine, hinter den Auftritten glutvoller italienischer Diven und identitätsverwirrter Schmerzensmänner in Unterhemden, geht es immer auch um fundamentale Identitätsfragen: Wer sind wir? Wo endet wessen Toleranz? Wofür steht dieser Kontinent?
Auch für die Israelin Golan geht es in Malmö um mehr als Musik. Sie habe geweint, als sie auf der Eurovisions-Bühne stand, erzählte sie. Und: „Ich lasse mich nicht brechen.“ Und so liefert dieser Song Contest bizarre Szenen: Draußen skandieren Menschen wütende antisemitische Slogans. Drinnen steht eine junge Frau auf einer riesigen Bühne, bewacht von Leibwächtern, und singt ein Lied über die Liebe, die niemals sterben wird.